Empfehlungen der Freunde der Stadtbibliothek Reutlingen e.V.
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Monika Helfer: Die Bagage
Hanser Verlag 2020 – 162 Seiten Die Autorin widmet den Roman ihrer Familie, die im Dorf „die Bagage“ genannt wurde, weil sie arm war und als Außenseiter am äußersten Ende des Dorfes wohnte. Der Vater, Josef Moosbrugger, ist ein stattlicher, wortkarger Mann, der mit niemand im Dorf Kontakt hat außer mit dem Bürgermeister. Mit dem macht er „Geschäftchen“. Die Mutter, Maria, ist auffallend schön, das macht sie im Dorf verdächtig. Die Frauen sehen, dass alle Männer auf sie scharf sind. Und die Männer sind sauer, weil sie keine Chance haben. Als Josef im Ersten Weltkrieg eingezogen wird, bittet er den Bürgermeister, auf seine Frau aufzupassen. Er selbst kommt zweimal auf Heimaturlaub. Während seiner Abwesenheit geht Maria einmal auf den Markt im Nachbardorf und trifft dort auf Georg, einen Deutschen, in den sie sich auf Anhieb verliebt. Dreimal kommt er sie besuchen. Die Kinder mögen ihn. Den Bürgermeister dagegen, der sich einmal an Maria heranmacht, lassen sie nicht mehr ins Haus, obwohl sie dadurch Hunger leiden müssen, denn er hatte ihnen immer zu essen gebracht. Aber Lorenz, der Zweitälteste weiß Rat… Maria wird schwanger und bekommt ein Mädchen, Margarete. Als Josef aus dem Krieg zurückkommt, glaubt er den Gerüchten im Dorf mehr als seiner Frau. Mit dem Kind spricht er nie ein Wort, ja er schaut es nicht einmal an, während er mit den vier älteren und den zwei jüngeren Kindern liebevoll umgeht. Diese Margarete ist die Mutter der Autorin. Monika Helfer erzählt diese Geschichte nüchtern. Man meint, die wortkargen Protagonisten zu hören. Gefühle äußern sich höchstens in Gesten, ausgesprochen werden sie nicht. Doch der Familienzusammenhalt ist beeindruckend. Die Kinder, jedes auf seine Weise, jedes mit einem anderen Temperament, tragen das Ihre dazu bei. So ist ein Familien-, ein Heimatroman entstanden, der unbedingt lesenswert ist. Renate Overbeck |
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Thomas Mullen: Weißes Feuer
Köln: Dumont 2019 – 480 Seiten Das ist das Buch zur Stunde: der Kriminalroman von Thomas Mullen. 1950, Atlanta, Georgia. Seit zwei Jahren gibt es in der Stadt auf Druck der schwarzen Community acht „Negro-Cops“. Sie dürfen nicht ins Revier und auch nicht ins Archiv, sie dürfen nur zu Fuß Streife laufen, und auch nur in schwarzen Vierteln, sie dürfen keine Weißen festnehmen und keine Befragungen durchführen. Wenn sie einen Kriminellen festnehmen, müssen sie die weißen Polizisten rufen, dann kommt ein Polizeiauto – oder auch nicht. Sie werden von den weißen Kollegen verachtet, manchmal auch tätlich angegriffen. Aber sie sind voller Idealismus und stolz auf ihre Uniform. Viele der weißen Cops dagegen sind korrupt, in den Alkoholschmuggel oder ins Drogengeschäft verwickelt. Nicht wenige sind Mitglieder des Ku-Klux-Klan. Auslöser für die Handlung ist die Tatsache, dass drei schwarze Familien Häuser in einem weißen Viertel gekauft haben, weil es in ihren Vierteln zu eng wurde. Für die weißen Bewohner ist das ein unerträglicher Zustand. Sie haben die Wahl entweder selbst das Viertel zu verlassen oder die neuen Anwohner mit Gewalt zu vertreiben: Scheiben werden eingeschlagen, Häuser abgefackelt oder Bewohner zusammengeschlagen. Zwei schwarze und ein weißer Polizist bemühen sich, das Viertel zu befrieden und gleichzeitig den Alkohol- und Drogenschmuggel zu stoppen. Die Handlung ist komplex und spannend. Es gibt viel Gewalt und es fließt viel Blut. Auch die Negro-Cops können nicht unschuldig bleiben. Nach der Lektüre wünscht man sich inständig, die Black Lives Matter Bewegung möge etwas verändern. Die Tatsache, dass erst kürzlich wieder ein Schwarzer in Atlanta von weißen Polizisten erschossen wurde, lässt Zweifel aufkommen. Übrigens: Der Autor wohnt in Atlanta. Seine Romane sind immer sehr gut recherchiert. Dies ist also mehr als ein Kriminalroman, es ist auch ein zeitgeschichtliches Dokument. Das Gleiche gilt übrigens auch für den ersten Roman der Serie: Darktown. Renate Overbeck |
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Lutz Seiler: Stern 111
Berlin: Suhrkamp 2020 – 522 Seiten Deutschland, besser gesagt das thüringische Gera, zwei Tage nach dem Mauerfall: Inge und Walter Bischoff verlassen fluchtartig ihre bisherige Heimat gen Westdeutschland. Zurück lassen sie ihr gesamtes Hab und Gut sowie ihren Sohn. „Carl-das Kind“ also, Mitte zwanzig und noch nicht so recht im Erwachsenenleben angekommen, wird vor vollendete Tatsachen gestellt. Er soll sich um die elterliche Hinterlassenschaft in Gera kümmern und alles in Ehren halten. Carl verweigert sich diesem Anspruch und macht sich auf nach Berlin. Dort lebt er eine Weile auf der Straße beziehungsweise im väterlichen Auto der Marke Shiguli und verdingt sich zunächst als Schwarztaxi-Betreiber. Ein Gewerbe, das im Nachwende-Berlin durchaus einträglich war. Schließlich findet er im „Rudel“, einer Gruppierung der Berliner Hausbesetzer-Szene eine erste neue Heimat. Als Maurer, seinem erlernten Beruf, kann er sich nützlich machen und gehört bald zur Stammbesetzung der Kellerkneipe „Assel“ in der Oranienburger Straße. In seiner Freizeit schreibt Carl Gedichte und bemüht sich um Traumfrau Effi. Währenddessen erfahren sich seine beiden 50-jährigen Eltern in diversen Durchgangs- und Übergangslagern als ungebetene Gäste und machen erste Erfahrungen mit der Arbeitswelt in der Bundesrepublik. Doch trotz vieler Rückschläge halten die beiden an ihrem großen Ziel fest, von dem Sohn Carl wie auch die Leser erst gegen Ende des Romans erfahren. Im Lichte dieses elterlichen Lebensgeheimnisses erklärt sich auch ein Satz, der schon im ersten Kapitel zu lesen ist: „Vermisst, ja, seltsam, er hatte seine Eltern vermisst, nicht nur im vergangenen Jahr, in dem er sie nur ein einziges Mal gesehen hatte, nein, auch schon zuvor, und eigentlich immer, immer vermisst.“ Die Protagonisten beider Erzählstränge – also Sohn Carl einerseits, Inge und Walter anderseits – sind auf der Suche nach ihrem jeweils eigenen Lebenstraum. Und es ist schon fest genial zu nennen, wie Lutz Seiler, der für diesen Roman den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 erhalten hat, die Suche zweier Generationen nach Freiheit und einem selbstbestimmten Leben erzählerisch aufeinander zuführt und so zugleich das große Geheimnis dieser Familie lüftet. „Stern 111“, legendäres Radiofabrikat der DDR, steht für vieles in diesem Roman, nicht zuletzt für die Überwindung von fremd- oder selbstverordneten Grenzen. Jutta Silbereisen |
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Katja Oskamp: Marzahn, mon amour. Geschichten einer Fußpflegerin
Berlin: Hanser 2019 – 142 Seiten Ein komischer Titel – ein wunderbares Buch. Die Erzählerin, die mit großer Wahrscheinlichkeit mit der Autorin identisch ist, hat eine Midlife-Crisis und außerdem das Problem, dass ihr letzter Roman von keinem Verlag angenommen wurde. Sie beschließt, etwas ganz Neues anzufangen und lässt sich zur Fußpflegerin ausbilden. In Marzahn, einem wenig attraktiven Stadtteil Berlins findet sie eine Stelle in einem Kosmetikstudio, das ebenerdig in einem Hochhaus liegt. „Der Erdgeschosslage“, so schreibt sie, „verdanken wir viele Kunden mit Krücken, Rollatoren und Rollstühlen.“ Das heißt, die meisten Klienten sind betagt und viele von ihnen haben ein schweres Leben hinter sich mit Kriegserfahrungen, DDR und beruflichem Absturz nach der Wende, Armut, Krankheiten, Todesfällen. Es gelingt der Fußpflegerin, sie zum Reden zu bringen. Die Situation, bei der man sich etwas Gutes tun lässt, wo man entspannt eine Stunde lang auf einem Stuhl sitzt und die Füße baden, massieren und eincremen lässt, scheint die Zunge zu lösen. Natürlich sind nicht alle Kunden sympathisch, aber mit einigen entsteht eine freundschaftliche Beziehung In das Studio kommen die unterschiedlichsten Menschen: Eine Krankenschwester, die als Kind mit ihrer Mutter geflohen war und die, als sie in einem Kinderheim arbeitet, eines Tages einen fast erfrorenen Säugling vor der Tür fand. Jetzt macht sie sich Gedanken, was wohl aus ihm, inzwischen um die 60 Jahre alt, geworden ist. Oder der ehemalige SED-Funktionär, der die Erzählerin gern zum Sex überreden möchte. Oder die alte Frau, die von ihrer Tochter tagsüber in der Wohnung eingeschlossen wird, „Käfighaltung“ nennt die Autorin das. Auf wenigen Seiten werden die einzelnen Personen und ihre Geschichten erzählt. Die Berliner Schnauze verhindert, dass sie ins Pathetische abrutschen. „Keen Mitleid“ stellt eine Kundin gleich zu Anfang klar. Es wird auch viel gelacht. So ist ein warmherziges, heiteres, unbedingt lesenswertes Buch entstanden. Renate Overbeck |
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Julian Barnes: Die einzige Geschichte
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2019 – 304 Seiten „Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und weniger leiden?“ Mit dieser Frage beginnt Julian Barnes' neuester Roman Die einzige Geschichte. Es sei, so der Ich-Erzähler, am Ende die einzige Frage und die meisten von uns hätten nur eine einzige Geschichte zu erzählen, die von Bedeutung und damit erzählenswert sei. In Barnes‘ Roman ist es die Liebe zwischen dem 19-jährigen Casey Paul und der 48-jährigen Susan Macloed, verheiratet, zwei Töchter. Wer dabei an die üblichen Klischees von Silberlöwin oder Toyboy denkt, liegt falsch, denn dieser Liebe haftet etwas ganz und gar Unschuldiges an. Susan ist trotz ihrer 25-jährigen Ehe in Liebesdingen genauso unerfahren wie der junge Mann, der in der deutschen Übersetzung merkwürdigerweise Marko Paul heißt – das ist schade. Die Geschichte beginnt in den sechziger Jahren im „Village“, einem kleinen Ort im sogenannten Stockbroker Belt, etwa fünfzehn Meilen südlich von London: freistehende Häuser mit Fachwerk und Schindeln, Liguster- und Buchenhecken, alles sehr gediegen, very British. Susan spielt Tennis, ihr verschrobener Ehemann, den Casey zunächst für den Gärtner hält, spielt Golf und löst Kreuzworträtsel. Begegnet ist sich das ungleiche Paar im örtlichen Tennisclub. Caseys Mutter hatte den Sohn dort angemeldet, in der Hoffnung, er werde so in den Semesterferien ein nettes Mädchen kennenlernen. Doch das Los – ein anderes Wort für Schicksal – teilte ihm gleich zu Beginn Susan als Partnerin für das erste Turnier zu. Was sich dann ganz unaufgeregt, fast unmerklich entwickelt, ist eine Geschichte von großer Zuneigung, Vertrauen und Liebe – eben „die einzige Geschichte“, die möglich war. Keiner schöpft zunächst Verdacht, weil diese Liebe so unvorstellbar ist, und so verkehrt Casey ganz natürlich mit dem Ehemann und den Töchtern, die beide älter sind als er. Doch plötzlich erfolgt völlig unerwartet der Ausschluss aus dem Tennisclub, weil ihrer beiden Gegenwart „unter den erwiesenen Umständen“ nicht mehr tragbar ist... Barnes erzählt die Geschichte in drei Teilen. Im ersten Teil erleben wir das Entstehen dieser Liebe, im zweiten ihren Niedergang und im letzten Teil – Susan ist längst tot – blickt Casey Paul, ihr „feiner gefiederter Freund“, wie sie ihn gern nannte, auf sein Leben und seine einzige Geschichte zurück. Und so wie am Anfang eine einzige entscheidende Frage stand, steht am Schluss eine einzige „Wahrheit“, die sich durch alle Wechselfälle von Caseys Leben hindurch behauptet hat: seine Erkenntnis, dass „jede Liebe, ob glücklich oder unglücklich, eine einzige Katastrophe ist, sobald man sich ihr voll und ganz hingibt.“ Ganz nebenbei liefert dieser Roman auch ein Psychogramm der englischen Mittelschicht mit all ihren Abgründen, wobei der noch junge und unerfahrene Casey Paul erstaunt feststellen muss, dass Alkoholexzesse, Einsamkeit und eheliche Gewalt keineswegs im Widerspruch zu Cambridge-Examen und bürgerlichem Wohlstand stehen. Julian Barnes ist auf allen Ebenen ein feiner Beobachter und großartiger Erzähler. Renate Müller-Buck |
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Dörte Hansen: Mittagsstunde
München: Penguin Verlag 2018 – 318 Seiten „Mittagsstunde“ – nach dem großen Erfolg von „Altes Land“ Dörte Hansens zweiter Roman – spielt wieder im Norden Deutschlands, im nordfriesischen Geestdorf Brinkebüll nahe Husum, ungefähr 100 Kilometer nordwestlich von Kiel. In dieses Brinkebüll, sein Heimatdorf, kehrt Ingwer Feddersen, fast 50 Jahre alt und promovierter Prähistoriker an der Universität Kiel, für ein Sabbatjahr zurück, um seine Großeltern zu unterstützen und zu pflegen. Diese beiden, Ella und Sönke Feddersen haben ihn einst großgezogen, weil seine Mutter Marret dazu emotional und geistig nicht in der Lage war. Mit dieser verwandtschaftlichen Gemengelage ist der Leser schon mittendrin im Geschehen, das hier nicht weiter ausgeführt werden soll, um die Spannung zu erhalten. Im Dorf hat sich seit Ingwers Kindheit und Jugend viel verändert. Es fehlt an Infrastruktur wie einem Dorfladen und auch die Schule gibt es nicht mehr. Geblieben sind die Geheimnisse des Dorfes. Das, was jeder weiß, worüber man aber nicht spricht. Geblieben ist auch die Tradition der Mittagsstunde, eine Zeit in der das Dorf ruht und innehält. Während Ingwer seine Großmutter pflegt und seinen Großvater hinter dem Tresen im Dorfkrug unterstützt, wird das Sabbatjahr nach und nach zu seiner ganz persönlichen Mittagsstunde, zu einer Zeit des Innehaltens und Hinterfragens seines bisherigen Lebensentwurfs als kauziger Gelehrter an der Uni, privat in einer Dreiecks-WG lebend, die alle Zeiten überdauert hat und seinen Bedürfnissen längst nicht mehr entspricht. Als er nach diesem Jahr nach Kiel zurückkehrt, hat er begriffen, dass er selbst etwas ändern muss und nicht darauf warten kann, dass andere dies für ihn tun. Dörte Hansen geht in ihren beiden Romanen der Frage nach, wie die einzelnen Menschen so geworden sind, wie sie sind, und welchen Einfluss Herkunft und Heimat daran haben. Ihre Sprache basiert auf genauer Beobachtung, schildert detailgenau einzelne Begebenheiten, ohne dabei den Humor zu verlieren und das Geschehen, wo es passt, satirisch zu kommentieren. Darin liegt sicherlich einer der Gründe, warum die Autorin auf Anhieb ein großes Lesepublikum gefunden hat. Jutta Silbereisen |
Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen
München: Knaus Verlag 2015 – 352 Seiten Um es gleich vorweg zu nehmen: „Gehen, ging, gegangen“ ist, obwohl Mitte 2015, als die Flüchtlingswelle auf ihren Höhepunkt zurollte, erschienen, kein politisches Manifest. Jenny Erpenbeck hat mit diesem Buch vielmehr einen literarisch wohl komponierten, menschlichen Roman geschrieben. Vor dem Hintergrund des Schicksals afrikanischer Flüchtlinge, die damals auf dem Oranienplatz in Berlin campierten und mit einem Hungerstreik für ihre Rechte eintraten, gelingen tiefe Einblicke in die individuellen Lebensgeschichten dieser Menschen. Richard, ein kürzlich pensionierter, etwas vereinsamter Altphilologe sucht eine sinnvolle Aufgabe und besucht die ehemals Streikenden vom Oranienplatz in der ihnen nun vom Senat zugewiesenen Notunterkunft. Hier noch ganz Wissenschaftler arbeitet er einen Fragebogen aus, auf dessen Basis er das Gespräch mit den Gestrandeten sucht. Und die geben ihm auch bereitwillig Auskunft, erzählen ihre bisherigen Lebens- und Fluchtgeschichten. Aufgrund ihres unsicheren Status ist ihnen allen bewusst, dass sie sehr geringe Chancen haben, nicht abgeschoben zu werden. Doch es bleibt kein einseitiges Ausfragen. Zwar lernt Richard viel über Afrika, die Fluchtmotive jedes einzelnen und den langen Weg, der sie meist über Italien nach Berlin geführt hat. Aber auch die Interviewpartner stellen Fragen an Richard, zum Beispiel, warum er keine Kinder hat oder warum es jahrzehntelang mitten durch Berlin eine Mauer gab. Unterschiedliche Lebensvoraussetzungen und -entwürfe prallen aufeinander, die Auseinandersetzung damit ist spannend und passt nur zwischen zwei Buch- nicht zwischen Aktendeckel. Hinter jeder Geschichte verbirgt sich ein Schicksal, ein Leben. Allmählich werden aus den Bekanntschaften erste Freundschaften, Richard nimmt sogar kurzzeitig einige der neuen Freunde in sein Haus auf, sich dabei nicht zuletzt auf Tacitus berufend, der einst schrieb: „Es gilt bei den Germanen als Sünde, einem Menschen sein Haus zu verschließen, wer es auch sei; zwischen Gastgeber und Gast gibt es keinen Unterschied zwischen mein und sein.“ Gleichsam als Metapher umspannt die im Titel anklingende Konjugation des Verbs „gehen“ den aktuellen Lebensbogen der Flüchtlinge, seitdem sie sich auf das Wagnis der Flucht eingelassen haben bzw. einlassen mussten. Sie sind aus ihrer Heimat zum Beispiel Ghana, Niger oder Nigeria gegangen, haben eine lange Odyssee mit vielen vorläufigen Aufenthaltsorten hinter sich und es droht ihnen, bald wieder gehen zu müssen. Eindrucksvoll beschreibt der Roman das Jetzt, die unsichere Situation des Dazwischen, denn auch die ist Leben. Er will, wie schon gesagt, den Leser nicht aufrütteln, vielmehr macht er ihn auf ganz subtile Weise nachdenklich und empört darüber, wie durch gesetzliche Bestimmungen Menschen in die Illegalität gedrängt werden und wie im Dschungel des europäischen Asylrechts so manches – beabsichtigt oder durch das Chaos der Behördenaktivitäten – schief läuft. Dem Roman gelingt es, dem Leser die Probleme der Flüchtlinge nahe zu bringen; er gibt Beispiele, wie wir die Mitleidshaltung überwinden und uns aktiv für diese Menschen einsetzen können. Mit den Mitteln der Literatur setzt dieses Buch jedem einzelnen, von dem hier erzählt wird, ein Denkmal und stellvertretend allgemein für Menschen, die sich auf der Flucht befinden. Jutta Silbereisen |
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Alex Capus: Königskinder
München: Carl Hanser Verlag 2018 – 184 Seiten Um schneller an ihr Ziel zu gelangen, nehmen Tina und Max, ein junges Paar, den kürzeren Weg über einen Pass in den Schweizer Alpen. Es beginnt zu schneien und auf der Passhöhe rutscht der Wagen von der Straße in einen Graben. Sie können sich nicht befreien und zu Fuß sind sie chancenlos. Also beschließen sie, im Auto zu warten, in der Hoffnung, dass der Räumdienst die Straße herauf kommen und sie befreien würde. Während sie langsam immer mehr einschneien, beginnt Max eine Geschichte aus dieser Gegend zu erzählen, in welcher er Tina in die Zeit kurz vor der französischen Revolution entführt. Seine Geschichte handelt von dem Hirtenjungen Jakob, der hoch in den Bergen in einer kleinen Hütte auf einer Alm lebt und mit dem Hüten der Kühe eines reichen Bauern sein karges Brot verdient. Er verliebt sich ausgerechnet in Marie, die Tochter dieses Bauern. Die beiden lieben sich, aber das kann natürlich nicht gut gehen. Jakob muss fliehen und verdingt sich bei der französischen Armee. Nach Jahren kommt er gut entlohnt in seine Heimat zurück. Gegen den Willen des Bauern finden Marie, die auf ihn gewartet hat, und Jakob wieder zusammen. Nach einiger Zeit bekommt Jakob einen Marschbefehl an den französischen Hof nach Versailles. Er soll die Schweizer Kühe hüten, die Elisabeth, die Schwester des französischen Königs, auf ihrem Landgut hält. Die Prinzessin merkt, wie unglücklich ihr Kuhhirte ist und ersinnt einen listigen Plan um die Liebenden wieder zu vereinen. Tina unterbricht Max immer wieder, zweifelt am Wahrheitsgehalt dieser Geschichte und durchkreuzt mit ihrer Kritik die märchenhafte Idylle. Es entspinnen sich kurzweilige Streitgespräche zwischen den beiden. Dadurch wird die Spannung aber nicht geschmälert, sondern steigt die Neugier auf den Fortgang der Geschichte. Capus hat hier einen atmosphärisch dichten Roman geschrieben. In starken Bildern beschreibt er das mitunter deftige Leben in den Bergen und das idealisierte Hofleben in Versailles. Es macht Vergnügen die Geschichte dieser „Königskinder“ zu lesen, die am Ende doch irgendwie zu einander finden. Ingrid Kießling |
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Tom Franklin: Krumme Type, krumme Type
Berlin: Verlag Pulp Master 2018 – 402 Seiten Amerikanische Kriminalromane, die in den Südstaaten spielen, haben zumeist mit Rassismus, Armut, schwül-feuchtem Klima und Voodoo zu tun. (Letzteres eindrucksvoll in der Fernsehserie True Detective). Voodoo spielt im vorliegenden Roman aber keine Rolle. Es geht um zwei Männer, der eine ist schwarz und Polizist, der andere weiß und Automechaniker. In ihrer Jugend waren sie für kurze Zeit Freunde gewesen. Vor 20 Jahren wurde im Ort ein junges Mädchen entführt und ermordet. Beschuldigt wurde der Weiße, zwar mangels Beweisen freigesprochen, aber seither von allen gemieden, seine Werkstatt verfällt. Jetzt wird wieder ein Mädchen ermordet, wieder fällt der Verdacht auf ihn. Als der Polizist zu seinem Haus fährt, findet er ihn schwerverletzt auf der Veranda. Er bringt ihn ins Krankenhaus und rettet ihm so das Leben. Und er macht sich daran, das Verbrechen aufzuklären. Als Leser spürt man schnell, dass zwischen den beiden eine Beziehung besteht, aber nur schrittweise erfährt man, was es damit auf sich hat und was damals passiert ist. Neben der spannenden Handlung ist man gefesselt von den Beschreibungen der Menschen, der Häuser, der alles überwuchernden Natur, die beinahe alle Spuren verwischt. Renate Overbeck PS: Der Titel beruht auf der Methode, mit der man in den Südstaaten den Kindern beibringt Mississippi zu buchstabieren: M – i - Schlangen-s – Schlangen-s - i – Schlangen-s – Schlangen-s –i – hartes b – hartes b - i |
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Michelle Obama: Becoming. Meine Geschichte
München: Goldmann Verlag 2018 – 480 Seiten Wenn Sie genug haben von den Fake News und Hassreden aus dem Weißen Haus, dann sei Ihnen die kürzlich erschienene Autobiographie von Michelle Obama empfohlen. Aufgewachsen in der South Side, einer armen Gegend von Chicago, war es ihr nicht in die Wiege gelegt, einmal die First Lady der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden. Aber ihre Eltern gaben ihr und ihrem Bruder eine wichtige Maxime mit auf den Weg: Wenn du etwas wirklich willst, dann kannst du es erreichen. Michelle ging auf die Highschool, studierte Soziologie in Princeton, Jura in Harvard und wurde in eine der renommiertesten Anwaltskanzleien Chicagos aufgenommen. So recht glücklich fühlte sie sich dabei nicht. Bis eines Tages ein Praktikant namens Barack Obama in ihrem Büro auftauchte, der, ebenfalls aus einfachen Verhältnissen kommend und ehrgeizig, jedoch ganz andere, visionäre Ziele verfolgte. Was dann folgt, kennt man: Ehe, Kinder, neue Jobs mit humanitären Aufgaben, und die Schwierigkeit, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Dann kommen Wahlauftritte und schließlich zwei Wahlperioden im Weißen Haus. Michelle Obama ist die erste schwarze First Lady und darauf ist sie stolz. Aber sie begnügt sich nicht mit repräsentativen Aufgaben. Sie setzt sich für gesunde Ernährung für Kinder ein, legt selbst Gemüsebeete im Garten des Weißen Hauses an. Ihr Hauptziel aber ist es, das jedenfalls habe ich dem Buch entnommen, den unterprivilegierten, meistens schwarzen Mädchen Mut zu machen, ihnen einzuschärfen sich nicht einschüchtern zu lassen, sondern ein Selbstbewusstsein zu entwickeln, das es ihnen ermöglicht, dem Rassismus standzuhalten und sich für eine bessere Welt zu engagieren. Renate Overbeck |
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Wolf Haas: Junger Mann
Hamburg: Hoffmann und Campe , 2018 – 237 Seiten Wolf Haas, dessen Krimis um den schrulligen Kommissar Brenner auch Nicht-Krimi-Fans begeistern, hat auch Romane geschrieben, deren Titel wie Das Wetter vor 15 Jahren oder Verteidigung der Missionarsstellung allein schon die Neugier der Leser wecken. Sein neuer Roman mit dem Titel Junger Mann wird auf dem Schutzumschlag mit drei Sätzen vor-gestellt, die gleich die Eigenart des Romanhelden umreißen: Er ist ein bisschen zu dick und ein bisschen zu jung für sie. – Sie ist ein bisschen zu schön und ein bisschen zu verheiratet für ihn. – „Und so kam es, dass ich in neun Wochen fünfzehn Kilo verlor und meine Unschuld.“ ( S. 27) An sich ist es eine einfache Geschichte: Ein pubertärer Jüngling kämpft mit Gewichtsproblemen, um von Frauen nicht nur übersehen zu werden. Die vielfältigen Anstrengungen, die er dafür unternimmt, erwecken das Mitgefühl des Lesers und nehmen ihn ein für den Humor, mit dem alles erzählt wird. „Rückwärts durch die Knie betrachtet war die Welt immer am interessantesten.“ stellt der Protagonist gleich auf der ersten Seite fest, als er beim Skispringen zu tief in der Hocke mit dem Kopf zwischen den Beinen auf die Schanze zurast – und sich beide Beine bricht… Nach vielen Fährnissen, die der junge Mann im Verlauf des Romans zu bestehen hat, hört seine Geschichte auch genau mit diesem Satz auf. Wolf Haas ist wieder einmal ein höchst amüsanter Roman gelungen. Siegfried Baumgärtner |
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Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch. Band 1: Amerika
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2015 – 320 Seiten Der Theaterschauspieler Joachim Meyerhoff, geboren 1967, versteht es, sein Leben in Romane zu verwandeln. Vier Bände sind es bisher, jeder Band eine in sich geschlossene Erlebniswelt. Der Titel der Reihe, „Alle Toten fliegen hoch“, zeugt von einer existenziellen Betroffenheit des Ich-Erzählers, lässt aber auch bereits die lebensbejahende Heiterkeit anklingen, die einen bei der Lektüre in ihren Bann zieht. Wer beim Lesen noch nie gelacht hat, hier wird er es. Der erste Band, erschienen 2011, hat den lapidaren Titel „Amerika“. Das große Erlebnis, um das es geht, ist der einjährige Aufenthalt des 18 Jahre alten Oberschülers Joachim im amerikanischen Bundesstaat Wyoming. Zunächst aber lässt uns der Erzähler teilhaben an der Reise des jungen Mannes aus seiner norddeutschen Provinzstadt (es ist Schleswig, wie wir aus den nachfolgenden Bänden wissen) nach Hamburg zur Auswahlveranstaltung im Kreise der blasierten großstädtischen Mitbewerber und zu einem Abstecher auf die Reeperbahn. Schon hier bieten der Augenschein und verschiedene Rückblenden reichlich Anlass für erzählerischen Witz, und so wird es im Fortgang des Geschehens weitergehen. Nach einer abenteuerlichen Flugreise findet sich der junge Mann in einer von Einöde umgebenen Kleinstadt des amerikanischen Westens wieder. Seine Gasteltern und zwei ihrer drei erwachsenen Söhne erweisen sich zwar als etwas steif, aber verständnisvoll, der dritte Sohn jedoch ist ein Scheusal. In der High School trifft der Gastschüler auf mitreißende Pädagoginnen und verrückte Mannsbilder, schafft es, Mitglied der gefeierten Basketball-Mannschaft zu werden, gerät in wüste Trinkgelage der Mitschüler und an eine Freundin, die ihm mehr Freiheiten erlaubt als die in Deutschland zurückgelassene. Schließlich lernt er nicht nur die beeindruckenden Landschaften Kaliforniens kennen, sondern auch das Wyoming State Prison, in dem er sich mit einem deutsch-amerikanischen Todeskandidaten anfreundet. Jäh unterbrochen werden die Erlebnisse des Amerikafahrers durch die Nachricht aus Deutschland, dass sein geliebter mittlerer Bruder bei einem Autounfall tödlich verunglückt ist. Um mit der Trauer fertig zu werden, beschließt er bei der Beerdigung, für den Rest der vorgesehenen Zeit nach Amerika zurückzukehren. Wer dem Sog des ersten Romans erlegen ist, wird sich den folgenden Bänden kaum entziehen können: „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ (die ungewöhnliche Kindheit des Autors auf dem Gelände der Schleswiger Jugendpsychiatrie, die von seinem Vater geleitet wird), „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ (das Pendeln des Schauspielschülers zwischen den Herausforderungen der Münchner Schauspielschule und dem ritualisierten Alltag seiner angesehenen Großeltern, in deren Haus er wohnt) und „Die Zweisamkeit der Einzelgänger“ (die Turbulenzen, in die der noch erfolglose Schauspieler gerät, als er sich in drei Frauen gleichzeitig verliebt). Reinbert Tabbert |
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Laetitia Colombani: Der Zopf
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2018 – 283 Seiten Ich fand dieses Buch außerordentlich anrührend. Es geht darin um drei Frauen, die jeweils vor einer neuen Herausforderung in ihrem Leben stehen. Über sie erzählt Colombani in drei verschiedenen Handlungssträngen, die am Schluss auf wunderbare Weise miteinander verflochten werden. Dieses Buch ist einfach ein großer Lesegenuss! Es beleuchtet Schicksale von Frauen mit ganz unterschiedlichen Lebensumständen, die jedoch alle drei etwas gemeinsam haben: ihre Stärke. Ich kann mir vorstellen, dass sich besonders Frauen von diesem Buch angesprochen fühlen, aber auch Männer werden es sicher nicht bereuen, wenn sie sich daran wagen. Kristina Rode |
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Yascha Mounk: Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht
München: Droemer Verlag, 2018. – 250 Seiten Demokratiebewussten Bürgern erscheint der Buchtitel möglicherweise aufrührend. Die im Buch geschilderten Forschungsergebnisse über den Demokratiezerfall sind jedoch nicht ganz fremd. Von weltweit auftretenden demokratiefeindlichen Vorgängen erfahren wir täglich über die Medien. Die ersten beiden Kapitel des Buches sind eine sorgfältig recherchierte Medienbestandsaufnahme, unterstützt durch statistische Erhebungen. Man liest einen umfassenden Krisenbericht. Der Autor erkennt als Leitlinie bei „Demokratiezündlern“ die Sehnsucht nach „Heilsfiguren“. Der Antrieb für den aufkeimenden Populismus sind vor allem Zukunftsängste vor der Überfremdung, vor dem ethnischen Pluralismus, vor einem Nationalstaatsverlust. Aufkeimende Ressentiments steigern sich bis zu rassistischen Äußerungen. In diesem Klima gedeihen vereinfachende Meinungsbilder, die liberaldemokratische Regeln grundsätzlich ablehnen. Aus diesen Befindlichkeiten resultieren Wahlerfolge populistischer Parteien, wie etwa in Ungarn, Polen, Österreich und anderen europäischen Ländern, auch in Deutschland. Man kocht nach einfachen Rezepten gegen die Auswüchse des Lobbyismus, der Bereicherungssucht einiger Weniger und gegen die Verweichlichung in den etablierten politischen Kreisen. Laut Umfragen tendieren große Teile der Unzufriedenen zu radikalen, auch militärischen Regierungsformen. Die populistischen Heilsversprecher agieren nach einer ganz neuen Spielregel: „Durchsetzung des Machtanspruchs in demokratischem Mantel“. Mit diesem Aufrittsmuster schlagen dominante Politiker den Weg zu diktatorischen Regierungsformen ein (aktuelles Beispiel Türkei). Ein Hauptmerkmal des Zerfalls der Demokratie ist die Ausschaltung rechtsstaatlicher Strukturen. Im dritten Kapitel und in den Schlussbemerkungen bietet der Autor Maßnahmen zur Bekämpfung des Demokratieverfalls an. Manche seiner Überlegungen sind Allgemeinplätze („für unsere Überzeugungen kämpfen“, „Glauben an die Demokratie erneuern“). Mit einigen praktischen Vorschlägen wird er dann aber doch etwas konkreter:
Mounks Buch ist als Alarmsignal zu verstehen. Antworten auf Schwachstellen in unserem demokratischen Rechtsstaat und Lösungsvorschläge darf man keinesfalls den Populisten überlassen. Kurt Lange |
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Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig
Berlin: Aufbau Verlag, 2017. – 583 Seiten Ein Leben ist zu wenig – ein wunderbarer Titel, der mich neugierig gemacht hat. Und tatsächlich beschreibt Gysi zumindest zwei Leben: das vor 1989 und das danach. Dieses Schicksal teilt er mit vielen. Doch was sich in seinem Fall dahinter verbirgt, ist sehr spannend: Geboren 1948 in eine großbürgerliche Familie mit Vorfahren väterlicherseits im russischen und spanischen Adel und mütterlicherseits mit Intellektuellen wie der Nobelpreisträgerin Doris Lessing. Sein Vater war Kulturminister, Botschafter in Italien und Staatssekretär für Kirchenfragen. Mit 19 Jahren tritt Gregor Gysi in die SED ein und wird Rechtsanwalt. Dabei legt er die Gesetze treu, aber schlitzohrig aus und vertritt Dissidenten wie Robert Havemann und Rudolf Bahro. Das zweite Leben beginnt mit der Wende. Er wird Politiker. Als Vorsitzender der SED leitet er den Übergang in die PDS, und später in die Linkspartei. Er ist von 1990 bis 2002 und von 2005 bis 2016 Mitglied des Bundestages. Dann wird er Präsident der Europäischen Linken. Als Politiker ist er umstritten, angefeindet ob seiner linken Einstellung (immer wieder wird auch versucht, ihm eine Stasi-Vergangenheit anzudichten), gefürchtet und bewundert ob seiner rhetorischen Kompetenz und seiner Schlagfertigkeit. Heute, so sieht er es, beginnt wieder ein neues Leben, das Leben im Ruhestand. Man fragt sich, wie der aussehen wird. Der aus einem einzigen Satz bestehende Epilog lässt es erahnen: „Ich bin wild entschlossen, das Alter zu genießen.“ Hartmut Overbeck |
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Markus Orths: Max
München: Carl Hanser Verlag, 2017. – 572 Seiten „Starke Frauen säumten seinen Weg“. Mit „Max“ hat Markus Orths eine bemerkenswerte Romanbiografie über Max Ernst geschrieben. Max Ernst war ein äußerst vielseitiger Künstler, dem wir in diesem Roman nahe kommen und an seinem Leben, geprägt durch die Liebe zu sechs Frauen, teilnehmen können. Die Namen der Geliebten und Ehefrauen sind den Kapiteln des Buches voran gestellt. Max heiratet im Alter von 23 Jahren als junger Student während des ersten Weltkriegs seine erste Frau Lou Strauss und sie bekommen einen Sohn, Jimmy. Doch er verlässt die beiden, zieht nach Paris und lebt mit Paul Eluard und seiner Frau Gala in einer Dreiecksbeziehung zusammen, die ganz bewusst den Bruch mit gesellschaftlichen Normen öffentlich ausleben. Wir treffen in Paris auf die Dadaisten und die Freunde Hans Arp und André Breton. Geschickt lässt Orths in den Roman die Sprechweise und Wortspiele der Dadaisten und Surrealisten einfließen. Dann begegnet Max der jungen Marie-Berthe Aurenche. Die streng katholisch erzogene junge Frau hegt auf Grund ihrer Erziehung Schuldgefühle und versucht, eifersüchtig, mit allen Mitteln Max zu halten. Er verlässt sie schließlich und landet bei Leonora Carrington, einer englischen Künstlerin, in die er sich verliebt und mit der er sich nach Südfrankreich zurückzieht. Als Deutscher wird er im zweiten Weltkrieg interniert und die beiden verlieren sich in den Kriegswirren aus den Augen. Es ist die finanziell unabhängige Peggy Guggenheim, die ihm, wie vielen anderen Künstlern, zur Flucht in die USA verhilft. Max wird ihr Geliebter, lebt von ihrem Geld, aber richtig glücklich werden die beiden nicht miteinander. Er trennt sich von ihr, als er die amerikanische Künstlerin Dorothea Tanning kennenlernt, mit der er bis zu seinem Tod 1976 zusammen lebt. Es waren allesamt starke, faszinierende Frauen, die an der Seite des Künstlers lebten und meist selbst hochbegabte Künstlerinnen waren, wie vor allem seine erste Frau Lou Strauss, der trotz Peggy Guggenheims Hilfe die Flucht nach Amerika nicht gelang, und die in Auschwitz von den Nazis ermordet wurde. Bei aller Freiheit der Darstellungen weicht Orths von biografischen Fakten nicht ab. So ist der Roman ein echtes Lesevergnügen, geistreich und lebendig geschrieben und gleichzeitig ein Stück fesselnder Kunstgeschichte, das uns die Welt der Dadaisten und Surrealisten auf spannende Weise nahe bringt. Ingrid Kießling |
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Castle Freeman: Der Klügere lädt nach
München: Nagel & Kimche, 2018. – 201 Seiten Früher war Lucian Wing ein Rowdy und zusammen mit seinen Kumpels der Schrecken des Tals. Dann verpassten ihm drei „Männer mit Erfahrung“ (so der Titel eines früheren Romans von Castle Freeman) eine brutale Lektion. Danach ging er zur Navy, kam zurück und wurde später Sheriff. Als solcher agiert er besonnen und unauffällig, „langweilig“ wie seine Frau findet, die sich deshalb einen Liebhaber ins Haus holt. Das ist nicht der einzige Schicksalsschlag. Roark, der neue Vorsitzende des Gemeinderats macht ihm das Leben schwer, und zu allem Unglück muss er, mangels Bewerber, einen weiblichen Deputy einstellen. Diese neue Mitarbeiterin ist noch wortkarger als er selbst und genauso stur, von dem erhofften weiblichen Einfühlungsvermögen keine Spur. In dieser Situation werden zwei Jugendliche schwer misshandelt. Der Sheriff würde die Angelegenheit gern durch Untätigkeit regeln. „Alles regelt sich. Dinge gehen zu Ende. Das tun sie immer, wenn man sie lässt.“ Aber der neue Vorsitzende sitzt ihm im Genick, und so braucht es wieder Männer mit Erfahrung, um die Angelegenheit zu einem (guten?) Ende zu bringen. Der Charme des Buches liegt in der lakonischen Sprache, vor allem den Dialogen, die scheinbar banal, aber immer hintersinnig sind. Vieles bleibt unausgesprochen und wird doch verstanden – auch vom Leser. Renate Overbeck |
Robert Menasse: Die Hauptstadt
Berlin: Suhrkamp, 2017. – 458 Seiten Da läuft ein Schwein! David de Vriend sah es, als er ein Fenster des Wohnzimmers öffnete, um noch ein letztes Mal den Blick über den Platz schweifen zu lassen, bevor er diese Wohnung für immer verließ. De Vriend, ein Holocaust Überlebender, der dabei ist, in ein Altersheim zu übersiedeln, ist nicht der Einzige, der sich über diesen Anblick wundert. Alle Personen, die im Roman eine bedeutende Rolle spielen werden, sehen zu Anfang das Schwein: Fenia Xenopoulou gen. Xeno und Martin Susman, Beamte der Europäischen Kommission, Generaldirektion „Kultur und Bildung“. Sie sollen die Festlichkeiten für das 50-jährige Bestehen der Europäischen Kommission vorbereiten. Kai-Uwe Frigge gen. Fridsch, Kabinettschef in der Generaldirektion für Handel. Alois Erhart, emeritierter Professor für Ökonomie, der später eine Grundsatzrede halten wird, in der er Auschwitz als europäische Hauptstadt vorschlägt, was bei ihm nicht so aberwitzig scheint wie es klingt. Ryszard Oswiecki, ein Auftragskiller, der den Falschen getötet hat. Später kommt noch der Kommissar Brunfaut dazu, der versucht einen Mord aufzuklären, der von höchster Stelle vertuscht wird. Diese Personen, aus deren Perspektive abwechselnd erzählt wird, wachsen dem Leser langsam ans Herz, während ihn die Bürokraten der EU kalt lassen. Sie, die Karrieristen, denen es nur um ihr eigenes Fortkommen geht, verraten die Idee Europa, die der Autor leidenschaftlich verteidigt. Und was es mit dem Schwein auf sich hat? Lesen Sie selbst! Ein informativer, spannender und witziger Roman, den man uneingeschränkt empfehlen kann. Renate Overbeck |
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Colson Whitehead: Underground Railroad
München: Carl Hanser Verlag, 2017. - 352 Seiten Underground Railroad war der Name eines Netzwerkes, das zwischen 1810 und 1860 Sklaven half, die von den Plantagen der Südstaaten in den Norden Amerikas oder nach Kanada fliehen wollten. Das Leben der Sklaven auf den Plantagen war unerträglich. Sie wurden von ihren Besitzern ge- und verkauft, gequält und geschunden, und, wenn sie Anlass zu Ärger gaben oder versuchten zu fliehen, gefoltert und getötet. Wenn sie geflohen waren, wurden sie per Steckbrief gesucht und von professionellen Sklavenfängern aufgespürt. In dieser Situation half die Underground Railroad. Sie schickte Führer, die den Flüchtigen auf dem Weg durch die Wälder halfen und sie zu Bahnhöfen, d.h. verlassenen Häusern oder Scheunen brachten, wo sie mit Essen und Medizin versorgt wurden. Das alles war illegal und die Aktivisten riskierten ihr Leben; nicht selten wurden ihre Häuser niedergebrannt. Trotzdem verhalfen sie Tausenden von Sklaven zur Flucht. Whitehead schildert in seinem Roman die Flucht der Sklavin Cora, die aus Georgia über South- und North-Carolina in den Norden flieht, verfolgt und gejagt von dem Kopfgeldjäger Ridgeway. Immer wieder helfen ihr Mitglieder der Underground Railroad. Dass Whitehead aus diesem Netzwerk eine echte Untergrundbahn macht, ist ein hübsches, romanhaftes Detail. Was aber die Größe des Romans ausmacht, ist die sorgfältig recherchierte Realität. Der Roman ist in den USA ein großer Erfolg. Er hat u.a. den Pulitzerpreis bekommen und stand lange auf der Bestsellerliste. Vieles im heutigen Amerika versteht man besser nach der Lektüre dieses Romans. Renate Overbeck |
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Julian Barnes: Der Lärm der Zeit
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017. - 244 Seiten Um seine Familie zu schützen, wartet ein Mann im Mai 1934 jede Nacht neben dem Fahrstuhl seiner Leningrader Wohnung darauf, dass Stalins Schergen kommen, um ihn abzuholen. So beginnt die Romanbiografie von Julian Barnes über den Komponisten Schostakowitsch. Mit außergewöhnlichem Talent gesegnet, wurde er schon als Jugendlicher weltweit bekannt. Ballette und Sinfonien begründeten seinen Ruhm. Ein großer Erfolg war seine zweite Oper, "Lady Macbeth von Mzensk“, die 1934 in Leningrad uraufgeführt wurde und zwei Jahre auf dem Spielplan blieb. In dieser Zeit kamen auch die Nachfolger der Revolutionäre an die Macht und bauten ihr Schreckensregiment auf. In seinen Kompositionen versteckt Schostakowitsch geschickt Kritik an den politischen und sozialen Zuständen. Das bleibt allerdings auch der Zensur nicht verborgen und seine Kompositionen werden abgesetzt, "Lady Macbeth" sogar verboten. Ganz fatal wird es, als Stalin 1936 eine Aufführung im Bolschoi-Theater besucht und sie vor ihrem Ende verärgert verlässt. Vor allem die Bläser und der Schlagzeuger sind es, die dem Diktator als viel zu laut missfallen. In kürzester Zeit schwenkt die Presse von Begeisterung zu vernichtender Kritik um, und Schostakowitsch muss um sein Leben fürchten. Er wird immer wieder verhört und soll Auskunft zu seinen Freunden, über Attentatsversuche und politische Versammlungen geben. Er, der eigentlich mit der Politik nichts zu tun haben will, muss sich beugen und verbiegen. Doch die Macht lässt den weltbekannten Musiker leben und versucht ihn sogar für ihre Belange zu instrumentalisieren. So wird er, streng überwacht, 1949 nach New York entsandt, um die Sowjetunion zu repräsentieren. Von den Amerikanern gefeiert und den russischen Exilanten abgelehnt, empfindet er Ekel und Verachtung für sich in dieser Rolle, in der er gezwungen war, eine von der Partei vorgegebene Rede vorzutragen. Um weiterem Druck zu entgehen, zieht er sich ins Private zurück, um politisch unverfängliche Musik zu komponieren. Julian Barnes hat einen wichtigen Roman geschrieben, in dem er am Beispiel von Schostakowitsch die Unterlegenheit des Einzelnen in der Konfrontation mit der Macht aufzeigt. Mit viel Einfühlungsvermögen hat er eine fesselnde und beeindruckende Romanbiografie vorgelegt. Ingrid Kießling |
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Dörte Hansen: Altes Land
München: Knaus, 2015. - 286 Seiten In das geordnete bäuerliche Leben im Alten Land brechen nach dem Krieg, 1945, Flüchtlinge, "Polacken", ein. Sie sind nicht willkommen, aber „Hildegard von Kamcke hatte keinerlei Talent für die Opferrolle. Den verlausten Kopf erhoben, dreihundert Jahre ostpreußischen Familienstammbaum im Rücken, war sie in die eiskalte Gesindekammer neben der Diele gezogen, die Ida Eckhoff ihnen als Unterkunft zugewiesen hatte.“ Um Essen für die kleine Tochter gebeten, sagt Letztere: „Von mi gift dat nix!“, aber sie duldet, dass die Mutter Milch und Äpfel stiehlt. Hassen werden sich die beiden Frauen trotzdem bis zum Schluss. Als Hildegard von Kamcke später einem neuen Mann nach Hamburg folgt, lässt sie ihre Tochter Vera auf dem Hof zurück. Diese bleibt dem Haus treu. Sie bewohnt es nach dem Tod von Ida Eckhoff mit deren vom Krieg traumatisierten Sohn Karl zusammen. Im Dorf bleibt sie eine Außenseiterin. Die Dorfbewohner fürchten sie als Zahnärztin und als wilde Reiterin mit ihren scharfen Hunden. Neues Leben kommt ins Haus, als Veras Nichte Anne mit ihrem kleinen Sohn auftaucht, auch sie ein Flüchtling, denn sie ist aus ihrer gescheiterten Ehe geflüchtet. Auch diese beiden sind zunächst nicht gern gesehen und müssen sich, aus der Großstadt kommend, an die ländliche Umgebung gewöhnen. (Allein die Beschreibung des dörflichen Kindergartens Elbfrösche im Vergleich zu Leons Hamburger Kita lohnt die Lektüre des Buches!) Zusammen mit dem Bauern Heinrich Lührs vom Nachbarhof, dem seine Kinder und Enkel furchtbar auf die Nerven gehen, bilden sie schließlich so etwas wie eine glückliche Familie. Lesenswert! Renate Overbeck |
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Wolf Kampmann: Schuhbrücke. Ein Breslau-Roman
Hamburg: Osburg Verlag, 2016. - 396 Seiten Bruderherz?... das war einmal. Die Ereignisse formen den Bruderhass. In Breslau sind sie, die beiden Brüder Robert und Ernst, geboren. Im elterlichen Mietshaus in der Schuhbrücke – die Straße heißt heute Szewska, also Schuhmachergasse – sind sie aufgewachsen. Den Dienst für das Vaterland im Ersten Weltkrieg haben beide mit Mut und Waffe überstanden, Ernst mit Glück ohne Blessuren, Robert angeschlagen im Lazarett der Sieger. Am 1. Dezember 1923, nach neun Jahren „Funkstille“, wartet Ernst bei klirrender Kälte im Breslauer Hauptbahnhof auf seinen Bruder Robert. Beide merken schnell, was sie in ihrer Geisteshaltung trennt und was sie trotzdem zusammenhält. Ernst ist Sportreporter beim Schlesischen Tagesanzeiger. Als überzeugter Republikaner steht er mit seinem Bruder sofort auf Kriegsfuß. Dieser hat in München ein „schüchternes Bürschchen“ namens Adolf Hitler kennen gelernt, war am 8. und 9. November an dessen Putschversuch beteiligt, weshalb die Geheimpolizei nach ihm fahndet. Es kommt zu teilweise nächtelangen heftigen Diskussionen zwischen beiden Brüdern über die vermeintliche Mächtekonzentration der Juden. Bier und Schnaps steigern die Kampfstimmung. Daneben erfüllt jedoch auch eine Gemeinsamkeit das brüderliche Zusammenleben, nämlich die Liebe zu Hilde. Sie ist Ernsts Verlobte, bis Robert auftaucht. Auch sie, die schönste aller Breslauerinnen, wird ein Kampfmotiv der einstmals unzertrennlichen Brüder. Der Autor packt die sich dramatisch entwickelnden Handlungsabläufe in vier chronologische Buchteile: 1923, 1929, 1938 und 1945. Er packt sie außerdem sehr lebendig in die großartige Stadtgeographie und -architektur Breslaus ein. Auch bekannte historische Ereignisse dieser politisch aufgewühlten Zeit lässt er nicht unerwähnt, soweit sie den Romanstrang tangieren. Dieser Breslauer Roman ist spannend, der trotz einiger Leichen jedoch noch lange kein Kriminalroman ist. Kurt Lange |
Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren
München: Beck, 2013. - 125 Seiten Die Welt – ein Irrenhaus. In nahezu allen Epochen finden sich zu diesem Thema interessante Beispiele, von den Komödien der alten Griechen über Sebastian Brants Narrenschiff und Rabelais’ Gargantua bis zu den Komödien der Neuzeit ist die Auswahl groß – und immer wieder hat einer originelle Ideen wie der 40-jährige Schweizer Jonas Lüscher, gelernter Primarschullehrer, der zur Zeit als Doktorand am Lehrstuhl für Philosophie an der ETH Zürich arbeitet. Ihm reicht für sein literarisches Debüt eine gut 120-seitige Novelle, um den Leser für dieses Irrenhaus zu fesseln: Eine sehr feine Gesellschaft hat sich im angesagten „Thousand and One Night Resort“ in einer tunesischen Oase eingefunden zur luxuriösen Hochzeit eines jungen Paars aus der Londoner Finanzwelt. Geld spielt keine Rolle – bis es keines mehr gibt, denn das britische Pfund stürzt ab, und über Nacht ist England bankrott. Die versammelten Reichen sind zahlungsunfähig, weil ihre Kreditkarten wertlos sind, und es dämmert der „Frühling der Barbaren“. In kürzester Zeit reißt die Decke der Zivilisation; die Reichen haben nicht einmal genug zu essen und kommen dabei auf wenig zivilisierte Verhaltensweisen… Der heutige Leser mit den täglichen Nachrichten aus Nah- und Fernost, den Erfahrungen mit der Brüchigkeit der Finanzwelt, dem Irrsinn von Diktatoren und manchen Politikern, den Kapriolen des Kapitalismus ist gebannt und entdeckt zahlreiche Parallelen. Die Krone des Ganzen: die Rahmenhandlung spielt in einer Schweizer Irrenanstalt, in der Preising, ein erfolgreicher Geschäftsmann, dem Ich-Erzähler und Mitinsassen seine Geschäftsreise nach Tunesien erzählt, wobei auch noch üble kapitalistische Machenschaften und Kinderarbeit so nebenbei zur Sprache kommen. Fasziniert taucht der Leser in dieses Irrenhaus ein, findet, verglichen mit seiner realen Welt, manche Übertreibungen gar nicht so grotesk und legt nachdenklich das Buch beiseite. Siegfried Baumgärtner |
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Paul Auster: 4 3 2 1
Reinbek: Rowohlt, 2017. - 1321 Seiten So ungewöhnlich wie der Titel ist das Buch: 1,3 kg schwer, 1259 Seiten lang, aufgeteilt in 7 Kapitel mit je 4 Abschnitten. Und es konkretisiert Überlegungen, die jeder von uns schon einmal hatte: Was wäre, wenn… ich mich in einer bestimmten Situation anders entschieden hätte, wenn ich bestimmten Menschen begegnet oder nicht begegnet wäre, wenn ich an einem Sommertag vom Blitz erschlagen würde usw. Paul Auster dekliniert diese Fragen durch, indem er die Geschichte seines Protagonisten, Archibald Ferguson, von der Geburt bis zur Berufsfindung in vier Variationen erzählt. Archie, wie er von allen genannt wird, wächst in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Newark, einer Kleinstadt im Staat New York, auf. Sein Vater besitzt eine Elektrohandlung, seine Mutter ist Fotografin. In einer Version sind sie wohlhabend, in einer anderen arm, mal geschieden, mal nicht, mal stirbt der Vater, mal verlässt er die Familie. Amy Schneiderman, die weibliche Hauptfigur, wird mal seine Stiefschwester, mal seine Geliebte. Interessanter als diese Äußerlichkeiten ist aber die unterschiedliche physische und psychische Entwicklung des Protagonisten zum Journalisten oder Schrift- steller. Dabei erfährt man viel über die amerikanische Zeitgeschichte. Am College erlebt Archie in den sechziger Jahren die Studentenrevolte, die Rassenunruhen, die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, in die er mal mehr mal weniger involviert ist. Ein großer Roman, der einen bis zum Schluss fesselt, auch wenn die Arme vom Gewicht des Buches etwas müde geworden sind. Renate Overbeck |
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Asta Scheib: Sturm in den Himmel. Die Liebe des jungen Luther
Hoffmann und Campe, 2016. - 384 Seiten Blitz, Donner und Hagel… Es schießt ihm in den Kopf: „Herr, dein Wort ist von unbegrenzter Majestät und ist wunderbar in der Höhe.“ Jetzt ist der Weg zu seiner wahren Berufung auf einmal entschieden. Es sind die Gefühle des jungen Martinus Luther, mit deren Heftigkeit und Zärtlichkeit Asta Scheib ihre Romanbiografie ausstattet. Vermutlich hat den ersten Lebensabschnitt dieses bedeutenden Mannes keine andere der zahlreich verfassten Biografien so ausführlich und einfühlsam beschrieben. Welche Ereignisse das Kind, den Schüler und Studiosus geformt haben, leuchtet die Autorin in ruhiger Erzählform aus. Martin leidet unter Qualen. Seine Eltern züchtigen ihn wegen geringster Verstöße, die Lehrer erziehen mit teuflischen Drohungen und Stockhieben, die Prediger prophezeien unheilvolle Höllenqualen, die Obrigkeiten urteilen oft ungerecht, öffentliche Hinrichtungen sind unbarmherzig. Mit solchen Erfahrungen verfällt Martin jedes Mal in peinigende Albträume, die ihn an der Hilfe durch Gott und Christus zweifeln lassen. Aber auch Liebe erlebt Martin, zu Berblin, seiner „Ziehmutter“, wie er sie später nennt, zu Madlen, der „hergelaufenen Hexe“, wie Martins Mutter sie nennt, auch die Liebe zu seinen Geschwistern und Freunden und die Liebe zur Natur, wie sie Gott geschaffen hat. Wie löst sich der Konflikt zwischen diesen beiden gegensätzlichen Impulsen? Trotz, Vernunft, schulischer Fleiß, ehrgeizige Wissensbereicherung,… es sei richtig, dass er sein Talent nicht in den Stollen des Bergwerks vergrabe. Er habe der Welt viel zu sagen, prophezeit ihm der Lieblingslehrer der Lateinschule. Die Autorin fokussiert die Denkentwicklung des jungen Luther als Summe von Vorzeichen seines späteren Schaffens. Schon als Vierzehnjähriger erfährt er die absurde Funktionsweise des Ablasshandels als Inkassomethode für die religionsferne Instanz in Rom. Neben den schauerlichen Erfahrungen aus höllischen Schilderungen und Berichten entfaltet sich für den jungen Mann eine großartige Liebesbeziehung mit „dem schönsten Mädchen der Welt“. Die kurzen Phasen des Beisammenseins werden gewürzt mit heißen Liebesbriefen, in denen Martin immer wieder seine Absicht der Familiengründung nach abgelegtem Juristenexamen ankündigt. Die Ereignisse in der jungen lutherischen Welt sind spannend. Leider verliert sich die Spannung manchmal in längeren vertiefenden philosophischen Erwägungen. Trotzdem empfiehlt sich der Blick auf die weniger bekannte Lebenszeit des großen Reformators, dem Helden eines lebendigen Romans. Kurt Lange |
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Amos Oz: Judas
Suhrkamp, 2015. – 332 S. Die Gestalt des Judas aus dem Neuen Testament ist nicht nur in der bildenden Kunst immer wieder dargestellt worden, sondern auch in der Literatur. Dabei ist das traditionelle Verständnis des Judas als Inbegriff eines Verräters (sprichwörtlich geworden in den Begriffen „Judaskuss“ und „Judaslohn“), zumal in Werken des 20. Jahrhunderts, in Frage gestellt worden (so bei Nikos Kazantzakis, Jorge Luis Borges und Walter Jens). In einem überraschend zeitgeschichtlichen Zusammenhang taucht die Judasgestalt nun bei dem israelischen Schriftsteller Amos Oz auf, der in Deutschland nicht nur durch seine Romane bekannt geworden ist, sondern auch durch sein Eintreten für die Aussöhnung seiner Landsleute mit den Palästinensern und für eine Zwei-Staaten-Lösung. Hauptfigur in der erzählten Gegenwart von 1959/60 ist Schmuel Asch, ein 25jähriger kränklicher und etwas verwahrlost wirkender Jerusalemer Student, der in Schwierigkeiten steckt: Seine in Not geratenen Eltern können ihn nicht mehr unterstützen, seine Freundin hat ihn verlassen, und sein sozialistischer Arbeitskreis hat sich aufgelöst. Er gibt sein Studium auf und tritt eine bescheidene Stelle an als „sensibler Gesprächspartner“ des behinderten alten Gerschom Wald am Rande Jerusalems. Besitzerin des Hauses, in dem der kluge und eigensinnige Alte wohnt, ist dessen Schwiegertochter, die verschlossene Atalja, deren Mann Micha Wald im israelischen Unabhängigkeitskrieg ums Leben gekommen ist. Die feinfühlig dargestellten Beziehungen zwischen den drei unterschiedlichen Hausbewohnern (einschließlich einer Annäherung des verliebten Schmuel an die bedeutend ältere Atalja) hält das Leseinteresse bis zum Romanende wach. Da macht sich dann der reifer gewordene junge Mann auf den Weg in eine neu erbaute Stadt in der Negevwüste. Die Gespräche im Haus bringen politische Ereignisse der Vergangenheit ins Spiel, in deren Mittelpunkt Ataljas verstorbener Vater steht, Schealtiel Abranel. Er war Rechtsanwalt und Orientalist und bekleidete seit den 30er Jahren hohe Ämter in jüdischen Organisationen. Er, der Arabisch sprach und Freunde unter den Arabern hatte, war, als er in der UN-Versammlung für eine friedliche Lösung des Staatenproblems werben wollte, aller Ämter enthoben und in der jüdischen Öffentlichkeit als Araberfreund und Verräter geächtet worden. Gerschom Wald, der lange mit ihm zusammen gewohnt hat, kann, obwohl anderer Meinung als Abranel, authentisch von dessen Opposition gegen die israelische Kriegspolitik berichten. Was aber hat es mit Judas auf sich, dem das Buch seinen Titel verdankt? Es liegt nahe, in Abranel eine zeitgeschichtliche Entsprechung zu der biblischen Gestalt zu sehen. Mit Judas beschäftigt sich Schmuel, der während der freien Zeit, die ihm seine Gesprächsverpflichtung lässt, in der Nationalbibliothek die Recherchen zu einer Arbeit wieder aufnimmt, mit der er sein Studium abschließen wollte: über Jesus in den Augen der Juden. Judas kommt darin eine Schlüsselrolle zu. Er, so erscheint es hier, war der Einzige, der an Jesus als den Messias geglaubt und in diesem Sinne gehandelt hat. Als Jesus aber nicht, wie erhofft, als Gottes Sohn vom Kreuz herabstieg, sondern starb wie ein Mensch, da verzweifelte Judas und nahm sich das Leben, von Evangelisten und Christen später als Verräter verleumdet. Amos Oz hat, indem er im Kontext der israelischen Zeitgeschichte die Gestalt des Friedensfreundes Abranel erfand und zu einer Judasfigur in Parallele setzte, die das Gottesreich auf Erden wollte, aber als Verräter gebrandmarkt wurde, eine politische Hoffnung zum Ausdruck gebracht, die es schwer hat, sich gegen einen Mehrheitswillen durchzusetzen. Reinbert Tabbert |
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Jane Gardam: Eine treue Frau
Hanser, 2016. – 270 S. Elizabeth hat ihrem zukünftigen Ehemann, Edward Feathers, versprochen, ihn nie zu verlassen. Er hatte sie sehr darum gebeten. Eine Stunde später trifft sie Terry Veneering. „Seine Augen waren leuchtend hellblau. Elizabeth dachte: Es ist genau eine Stunde zu spät.“ Nach einer Nacht mit Veneering, bleibt sie ihrem Mann, den alle Filth, später Old Filth, nennen, ein Leben lang treu. Filth ist die Abkürzung von „Failed In London Try Hong Kong“, ein Begriff, den er selbst geprägt hat. Und tatsächlich ist er ein bedeutender Anwalt im Fernen Osten geworden, ebenso wie Veneering, der beruflich immer sein Kontrahent war. Die beiden hassen sich. Elizabeth und Filth führen eine untadelige Ehe und werden von vielen beneidet. Warum aber hat Edward diese Angst, verlassen zu werden? Um diese Frage beantworten zu können, muss man den ersten Band der Trilogie lesen: Jane Gardam: Ein untadeliger MannHanser, 2015. – 345 S. Und man wird reich belohnt, denn dieser Band ist wirklich spannend. Nach dem Tod seiner Frau stellt sich Old Filth mutig seiner Vergangenheit. Als alter Mann, er ist inzwischen über 80 Jahre alt, sucht er die Orte auf, an denen er seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Die Romane sind wunderbar erzählt, sachlich und nüchtern, doch mit viel Empathie für die Personen. Ich bin jetzt gespannt auf den dritten Band, in dem Veneering im Mittelpunkt stehen wird:
Jane Gardam: Letzte Freunde
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Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Kindheit, frühe Jugend
Elena Ferrante wurde mit diesem Roman, der 2011 in Italien und letztes Jahr in deutscher Übersetzung herauskam, allgemein bekannt. Erzählt wird die spannungsgeladene Geschichte zweier Freundinnen, die sich im brutalen, männer-geprägten Armenviertel Neapels behaupten müssen und bei aller Sympathie zueinander in Konkurrenz stehen. Lenù und Lila sehen in der Bildung eine Möglichkeit des Widerstandes gegen die grausame Männerwelt, wobei die Erzählerin Lenù diesen Weg über Schule und Studium schafft, auch gegen den Widerstand der Familie, während die „geniale Freundin“ Lila, die diesen Weg nicht einschlagen darf, trotzdem Lenù unterstützt und ihrerseits Abstand zur rauhen Wirklichkeit im Armenviertel gewinnt. Diesen Abstand setzt Lila aber als reife Frau gleich am Beginn des Romans durch, indem sie spurlos verschwindet. Dieses Verschwinden löst bei Lenù, die in Norditalien den Zwängen des napolitanischen Armenviertels entkommen ist, eine Suche nach Lilas Motiven aus und ist Anlass für die Schilderung der Fünfziger- und Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, die das Leben der beiden Freundinnen bestimmen. Der Leser wird neugierig auf den zweiten Band „Die Geschichte eines neuen Namens“, der in diesen Tagen in deutscher Übersetzung erschienen ist. Im Internet heißt es bereits: „Wer den ersten Band mochte, wird den zweiten lieben!“ – Und für das Ferrante-Fieber ist kein Ende abzusehen, denn die beiden nächsten Bände des auf vier Bücher angelegten Romanwerks werden bereits übersetzt. Siegfried Baumgärtner |
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Wolf Biermann: Warte nicht auf bessere Zeiten
Propyläen Verl. 2016, 543 S. In seiner Autobiographie nimmt uns Wolf Biermann an die Hand und führt uns durch seine deutsche Geschichte, die Geschichte einer jüdisch-kommunistischen Familie während des Dritten Reiches bis heute - ohne unsere Hand jemals loszulassen. Es ist eine Geschichte voller Geschichten über Verfolgung, das Überleben in den Bombennächten in Hamburg, seine kommunistische Erziehung und seinen folgerichtigen Weg in die DDR. Er war überzeugt davon, beim Aufbau eines besseren Deutschlands helfen zu müssen. Trotz aller Widerstände durch die Partei war Biermann vom mütterlichen Auftrag getrieben, den Wunsch seines Vaters zu erfüllen, ein neues Deutschland zu bauen. Dieses Ziel verliert er auch während seines Auftrittsverbotes von 1965 -1971 nicht aus den Augen, hält engen Kontakt zu Dichtern, Sängern und Künstlern daheim und in aller Welt und ist vor allem in enger Freundschaft mit Robert Havemann verbunden. In diesen Jahren entstanden die Lieder, die Biermann weltberühmt machten und maßgeblich das Entstehen einer oppositionellen Bewegung prägten, die noch immer von einem freien und gerechten Sozialismus träumte. Biermanns persönliche „Wende“ kam im November 1976 mit seinem Konzert in Köln. Entgegen aller Erwartung wurde ihm, nachdem das Konzert von der ARD übertragen und überall in der DDR im Westfernsehen gezeigt wurde, die Rückreise verweigert. Damit war er ausgebürgert. Dazu noch eine Anmerkung zur Sprache Biermanns: Die oft bitteren Erfahrungen verpackt er in eine bildhafte Sprache mit versteckter Ironie und Sarkasmen, die ihm sicher schon beim Schreiben das Vergnügen bereiteten, das wir heute auch beim Lesen empfinden. Zu diesem Buch gibt es ein Hörbuch u. a. mit Gedichten und Liedern vom Autor, hervorragend gelesen von Burkhart Klaußner. Ein fesselndes, zutiefst mitfühlendes Hörerlebnis! Reinhold Kiessling |
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Vincent Klink: Ein Bauch spaziert durch Paris
Rowohlt, 2015. - 258 S. Der Titel des Buches stimmt überhaupt nicht. Vincent Klink spaziert nicht durch Paris, sondern er zischt mit seinem geliebten Klapp-E-Bike durch die Stadt. Und er erkundet Paris nicht nur mit dem Bauch, sondern durchaus auch mit dem Kopf. Zwar landet er immer wieder in Restaurants, was bei seinem Beruf als Koch kein Wunder ist, aber er besucht auch Museen und Friedhöfe und plaudert über Kunst und Literatur, über Geschichte und Politik. Er ist enorm gebildet, und der Leser lernt auf unangestrengte Weise eine Menge über die Stadt. Vincent Klink hat Paris schon sehr oft besucht, und jedes Mal entdeckt er Neues. Nehmen wir als Beispiel den ersten beschriebenen Besuch: Gleich nach dem Einchecken im Hotel geht er ins Jüdische Museum, er hat das Hotel danach ausgesucht. Als ihn der Hunger überfällt, sucht und findet er einen Falafel-Shop und ganz nebenbei erfährt der Leser, dass der Sterne-Koch „ein Spezialist für „Doppelwhopper“ der Schnellgrillerei „Burger King“ ist. Ausgestattet mit einem guten Tipp von Vincent Klink wird man demnächst guten Gewissens einen „Doppelwhopper“ oder einen „Big Mac“ bestellen können. Oder man kocht doch lieber selbst mit Hilfe der eingestreuten Rezepte, wie z.B. die Jüdische Hühnersuppe à la Vincent. Und dabei träumt man von Paris, seiner Architektur, seinen Malern und Dichtern, und fast muss man gar nicht mehr selbst hinfahren. Renate Overbeck |
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Jules Barbey d’Aurevilly: Der Chevalier des Touches
Matthes & Seitz, 2014. – 201 S., Anhang 212-295. Erstveröffentlichung aus dem Französischen, übersetzt von Caroline Vollmann und Gernot Krämer. Dezember – Nebel – Dunkelheit – nasses Pflaster – der Kapuzinerplatz verlassen – klappernde Holzschuhe – jaulende Hunde. Diese Eingangsszene macht nicht nur neugierig, sondern beunruhigt. Der Beginn eines Krimis, der in der Retrospektive aufgerollt wird: Aufgeschreckt durch das „Gespenst“, das heute Abend über den Platz huschte, doch immerhin behaglich am Kaminfeuer sitzend, rufen sich einige Landadelige eine Geschichte ins Gedächtnis. In der Runde sitzt still die anscheinend taube, am einstigen Geschehen Beteiligte, Aimée de Spens. War das „Gespenst“ kein anderer als der Chevalier des Touches, der über den Platz schlurfte? Aber wie kann das sein? Der Chevalier, der Kopf der „Chouans“ – konservative, katholische Königstreue in der Bretagne – war vor Jahren zum Tod am Galgen verurteilt worden. Mit seinen elf Tapferen hatte er die Restauration gegen die Erste Republik in der Zeit von 1793 bis circa 1804 verteidigt. Mutige Befreiungsaktionen à la Musketiere erregten Aufsehen in jenem aussichtslosen Kampf. Ein erschreckender Racheakt der Royalisten, die Windmühlen-Exekution, sollte der Nachwelt als „rote“ Mühle in Erinnerung bleiben – ein grausiger Höhepunkt. Der Chevalier des Touches. Ein Held? Ein Wiedergänger? Oder einer, der dem Todesurteil auf mysteriöse Weise entkam? Diese Frage gibt der Roman dem Leser auf. Ein Abenteuerroman und gleichzeitig ein geschichtliches Dokument. Barbey d’Aurevilly (1808-1889) widmet das Buch seinem Vater. Dieser erlebte noch als Kind wie „der militärischen Glanz des Kaiserreichs und Napoleons Ruhm den Krieg der Chouans überstrahlten.“ Kennengelernt hat der Autor den Chevalier offenbar 1858. Der Roman ist also ein „wahres“ Abenteuer. Geschichte verstehen geschieht nicht zuletzt auf diese Weise: durch Erinnern und Erzählen. Im Übrigen erhellen Essays von Heinrich Mann und Michel Serres, welche diesem Band, der deutschen Erstveröffentlichung, beigegeben sind, die literarhistorische Dimension dieses Werkes. Wenig goutiert in seiner Zeit – französische Erstveröffentlichung 1863 –, ist der Roman ein an- und aufregendes Zeitdokument. Valérie Lawitschka |
Najem Wali: Bagdad. Erinnerungen an eine Weltstadt
Hanser Verl., 2015. - 413 S. Aus dem Arabischen übersetzt von Hartmut Fähndrich Dass jemand eine Stadt liebt, erklärt sich in besonderen Erlebnissen, die nachhaltige Eindrücke hinterlassen haben. Der Buchautor wurde 1956 in Basra, der bekannten Stadt am Schatt al-Arab im Irak, geboren. Seine Familie zog kurz danach in die 180 km entfernte Stadt Amara um, wo Najem Wali seine Kindheit und Schulzeit erlebte. Sein Vater war Taxifahrer und brachte von seinen Touren nach Bagdad regelmäßig Ansichtskarten mit Abbildungen markanter Gebäude, Straßen und Plätze mit. Dadurch entflammte bei Najem das Interesse, die Neugierde, die Liebe zur irakischen Hauptstadt. Im Alter von sechs Jahren durfte er seinen Vater begleiten, denn, so bemerkte der Vater obligatorisch, „er muss Bagdad sehen, wenn er etwas Gewichtiges werden soll“. Für den Jungen war Bagdad „die Stadt seines Traums“ geworden. Die Stadt Bagdad hat keine antike Vergangenheit. Sie wurde im Jahr 762 von einem Abassidenkalifen gegründet und als Regierungszentrum mit Palästen und Prunkbauten ausgebaut. Andere irakische Städte wie Basra, Erbil, Mossul, wurden dagegen bereits in vorchristlicher Zeit errichtet. Aber keine dieser Städte durchlitt während zahlreicher Überfälle permanente Zerstörungen und Wiederaufbauten wie Bagdad. Das Buch ist autobiografisch verfasst. Der Autor schildert seine Studien- und Militärdienstzeit, seine intensiven Erkundungen der Stadtteile beiderseits des Tigris, seinen beruflichen Einstieg als Geschichtenschreiber am Radio Bagdad und bei verschiedenen Zeitschriften und seine ersten heißen Liebesbekanntschaften. Darin bindet Wali literarisch-historische Reminiszenzen ein, so die Vorstellung bedeutender irakischer Lyriker und Erzähler der frühen Bagdad-Zeit um 800-1050. Sie besangen alle die Stadt des Vergnügens und die Stadt der Hoffnungslosigkeit, aber immer die Stadt der Liebe, die Stadt von Tausendundeine Nacht. Aus der jüngeren Vergangenheit erwähnt der Autor nichtirakische Schriftsteller wie John Dos Passos, Annemarie Schwarzenbach und Max Frisch, die sich in Bagdad aufgehalten haben und ihre Erlebnisse in dieser Stadt in ihren Gedichten und Romanen glorifizierten. Auch einige im Irak geborene jüdische Schriftsteller, die in den 1950er Jahren wegen der repressiven Judenfeindlichkeit ausgewandert sind, hielten standhaft zu der Bagdader Literaturkultur. Das Studium an der Akademie der schönen Künste war Wali verwehrt, da er nicht Mitglied der Baathpartei sein wollte. Die Fakultät Europäische Sprachen, darin die Abteilung Deutsche Literatur, war von dieser Bedingung noch befreit. Sein Studium begann 1974. Nach der Machtübernahme Saddam Husseins am 16. Juli 1979 geriet Wali wegen seiner die Diktatur ablehnende Einstellung in große Schwierigkeiten. Anfang 1980 wurde er verhaftet und sogar gefoltert. Am 22. September 1980 brach der irakisch-iranische Krieg aus. Am 28. Oktober 1980 emigrierte Wali mit einem gefälschten Pass über die Türkei nach Europa. Die Stadt Bagdad hat heute aus westlicher Sicht wegen kriegs- und terrorbedingter Ereignisse einen sehr schlechten Ruf. Es ist dagegen spannend, eine solche Stadt als Anker für ein jahrhundertelanges bis in die Neuzeit andauerndes literarisches Schaffen kennenzulernen. Kurt Lange |
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Richard Ford: Frank
Frank Bascombe, Chronist des heutigen US-amerikanischen Mittelstands, ist im vierten Band von Richard Fords Bascombe-Romanen ein Immobilienmakler im Ruhestand. Fasziniert verfolgt der Leser, mit wie viel Humor, aber auch Sarkasmus dieser amerikanische Jedermann seine Welt beschreibt, den Leuten zuhört, sie manchmal belächelt, sich aber nie über sie erhebt, weil er selbst einer von ihnen ist. Die vier Episoden des Romans spielen in der Umgebung von New Jersey an der Ostküste, die vom Hurrikan Sandy 2012 verwüstet wurde, und die Art, wie die Gesellschaft beschrieben wird, macht die Verwüstungen im gegenwärtigen Präsidentschaftswahlkampf mit seinen rassistischen Exzessen begreifbar. Ein sehr lesbares Buch, das bei allem Humor den Leser nachdenklich macht und viele auch zu den drei Vorgänger-Romanen um Frank Bascombe greifen lässt. Bascombe stellt einmal fest: Ich hinterlasse mittlerweile kaum noch Spuren – was ich befriedigend finde. Unsere Möglichkeiten, Spuren zu hinterlassen, sind begrenzt. Mir kommt es angemessen vor. Das ist das neue Normal. Und genau so überschreibt Ford danach die dritte Episode des Romans, in der Bascombe seine erste, für ihn immer noch wichtige Ehefrau im Altersheim besucht: „Das neue Normal“. Siegfried Baumgärtner |
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Jodi Picoult: In den Augen der anderen
Lübbe Ehrenwirth, 2011. - 684 S. Jacob Hunt hasst die Farbe Orange. Und er hasst es, wenn sein gewohnter Tagesablauf gestört wird. Routinen sind für ihn lebenswichtig, denn er leidet unter dem Asperger-Syndrom, einer autistischen Störung. Deshalb kocht Emma, seine Mutter, montags nur grüne Speisen und dienstags rote. Und längst hat sie Jacobs Besessenheit für Kriminaltechnik akzeptiert. Doch dann wird seine Erzieherin Jess erschlagen aufgefunden, und Jacob wird des Mordes an der jungen Frau verdächtigt. Die mühsam erkämpfte „Normalität“ in Emmas kleiner Familie bricht zusammen. Jacob muss sich vor Gericht verantworten. Alle Beweise sprechen gegen ihn. Doch Emma nimmt den Kampf auf. Denn es geht darum, ihren Sohn vor dem Gefängnis zu bewahren – und um die Rechte von Menschen, die anders sind. Dieses Buch ist spannend geschrieben, es hat mich gefesselt und ließ mich nicht mehr los. Zum einen ist da die Schwierigkeit der Mutter, wie mit dem autistisch veranlagten Sohn umzugehen ist, ohne sein Vertrauen zu verlieren sowie mit den Menschen in seinem Umfeld. Eine aufregende Entwicklung entsteht durch das von Jacob anscheinend gewonnene Vertrauen zu seiner Erzieherin - oder ist es mehr? Lilo Werner |
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Castle Freeman: Männer mit Erfahrung
Nagel & Kimche, 2016. - 176 S. Wenn Sie diese typisch amerikanischen Filme mit abgewrackten, wortkargen alten Männern mögen, dann sollten Sie diesen Roman lesen. Er spielt in den Bergen von Vermont. Eine junge Frau wird von einem Brutalo namens Blackway, mit dem sich keiner anlegen will, bedroht. Der Sheriff kann ihr nicht helfen, solange nichts passiert ist. Aber er verweist sie an eine Gruppe eben solcher abgewrackter, wortkarger Männer. Mit einem Alten, der viele Tricks weiß und einem Jungen, der groß und stark, aber geistig ein wenig minderbemittelt ist, macht sie sich auf, um mit Blackway zu „reden“. Mit der Zeit merkt der Leser, dass, was als Zufall erscheint, sehr wohl von den Männern geplant ist, handelt es sich doch um „Männer mit Erfahrung“ … Renate Overbeck |
Susanne Kippenberger: Das rote Schaf der Familie. Jessica Mitford und ihre Schwestern
Hanser, 2014. - 594 S. Schon der Titel macht neugierig: „der Familie“… welcher Familie? Und nach den ersten 100 Seiten die schockierende, irritierende Feststellung: Und das soll eine Familie sein? Diese Familiensaga aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts spiegelt alle, und ich meine in der Tat alle, nur denkbaren Variationen einer Upper-class-family des British Empire im Niedergang wider. Die Hauptfigur des vorliegenden Buches, die zweitjüngste der englischen Freifräuleins, Jahrgang 1917, schlug, wie der Klappentext verrät, aus der Art: „Heiratet erst ihren Vetter, der ein Churchill-Neffe war, dann einen jüdischen Anwalt. Wurde lebenslustige Kommunistin und kettenrauchende Amerikanerin mit englischem Upper-class-Akzent, Bürgerrechtlerin und Performerin, Inselbesitzerin und Bestsellerautorin. Jessica Mitford, „das rote Schaf“ der Mitford Sisters, floh vor ihrer Familie, bekämpfte ihre Werte und kam doch nicht von ihr los.“ Das, was während dieses Lebens passierte, zu lesen, es quasi mitzuerleben, das ließ mich bei dieser von meiner Tochter empfohlenen Lektüre nicht los. Neben der Schilderung einer wohl einzigartigen Familie lernen wir europäische Geschichte zwischen den und nach den beiden Weltkriegen. Wir erfahren dramatische Entwicklungen der Zeitgeschichte, gespiegelt in bizarren familiären Konstellationen: Die Älteste der Schwestern wurde Schriftstellerin, die Zweitälteste widmete sich der Landwirtschaft, die Dritte und Schönste heiratete den Faschistenführer Englands, die Vierte war Hitlers Freundin und die Jüngste Herzogin von Devonshire. Bizarrer geht nicht, oder? Hartmut Overbeck |
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Peter R. Neumann: Die neuen Dschihadisten. IS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus
2. Aufl. - Econ, 2015. - 256 S. Ältere Auflage: ISIS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus In historischer Reihenfolge nennt der Autor die Anarchistische Welle in den Jahren 1880 bis 1905, die Antikolonialistische Welle, die zwischen 1930 und 1940 einsetzte und Mitte des 20sten Jhs. ihren Höhepunkt erreichte, sodann die Linke Welle der 1960er Jahre, entstanden aus der Studentenbewegung, und die Rechte Welle, die nicht unmittelbar einer bestimmten Zeitspanne zuzurechnen ist. Der moderne Terror tritt mit besonderen Eigenheiten auf. Da er sich mit religiösen Motiven artikuliert, könnte diese fünfte Welle als die Religiöse Welle bezeichnet werden. Nach diesen Vorabreflexionen analysiert Neumann den in den nah- und mittelöstlichen Ländern aufgekeimten islamistischen Terror. In der Gründung der Muslim-Bruderschaft (1928 in Kairo) sieht der Autor eine bedeutende verschiedener Wurzeln. Davon abtrünnige Gruppen entwickelten sich noch vor der Jahrtausendwende zu militärisch organisierte Verbände. Dabei entwarfen verschiedene Führungspersonen, z.B. Osama bin Laden, der palästinensische Islamgelehrte Abdullah Azzam, der al-Qaida-Chef al-Zawahiri und andere ihre Konstruktionen einer länderübergreifenden, ja globalen Agitationsstruktur. Das unsensible Eingreifen der Großmächte in regionale Konflikte (UdSSR in Afghanistan, USA in Afghanistan und im Irak) verstärkte die Expansion dschihadistischer Gruppen. Die raschen Gebietseroberungen des Islamischen Staates in Syrien und im Irak sind die Folge des Stellvertreterkrieges zwischen regionalen geltungssüchtigen Staaten. Die Ausbreitung des Wirkungskreises der islamistischen Organisationen auf westliche, im Besonderen auf europäische Regionen ist Neumann zufolge die Konsequenz aus dem militärischen Eingreifen westlicher Staaten. Dieser Effekt äußert sich einerseits in der Anwerbung sogenannter Auslandskämpfer durch salafistische Gruppen sowie durch weltweite spektakuläre Terroranschläge. Wie kann dieser Terrorismus bekämpft werden? Mit dieser Frage befasst sich das Schlusskapitel. Es sind natürlich die klassischen Maßnahmen der Aufdeckung geplanter Terroranschläge sowie die Strafverfolgung nach erfolgten Attentaten. Der Autor legt jedoch einen großen Wert auf präventive Strategien kompetenter und gut ausgestatteter Sicherheitsbehörden mit der Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen. Neumann betrachtet das Phänomen des dschihadistischen Terrors global. Ein wichtiger erfolgversprechender Teil der Gegenstrategie ist deshalb die internationale Vernetzung. Der Autor erkennt in diesem Feld einen merkwürdig erscheinenden Handlungsbedarf bei den deutschen Behörden. Der Buchautor ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Er studierte in Berlin und Belfast und promovierte am King’s College in London. Seit 2008 ist er an dieser Universität Direktor des „International Center for the Study of Radicalisation“. Kurt Lange |
Kenneth Bonert: Der Löwensucher
Diogenes, 2015. - 800 S. In seinem Erstlingswerk „Der Löwensucher“ beschreibt der Autor In dieser Zeit erfährt er täglichen Rassismus – nicht nur gegen die Menschen mit schwarzer Hautfarbe, sondern auch gegen die Juden als Medienbestandteil der Apartheidspolitik in Südafrika. Sein Weg ist gepflastert mit tragischen Ereignissen und schicksalhaften Wendungen, in denen sich die Geschichte dieses Landes über viele Jahrzehnte widerspiegelt. Nach und nach erfahren wir mehr über die Gründe der Flucht dieser Familie aus Litauen und verstehen, warum Gitelle alles aufbietet, auch der übrigen Familie zur Übersiedlung in die neue Heimat zu verhelfen, was durch die Beteiligung Südafrikas am 2. Weltkrieg vereitelt wurde. Gefesselt von den Ereignissen, die Isaaks Weg auf der Suche nach Glück begleiten, um sein von der Mutter gefordertes Ziel „ Löwe, nicht Schaf zu sein“, zu erreichen, fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Ein ungemein vielseitiger und spannender Roman. Der Roman wurde ausgezeichnet mit dem Sami Rohr Prize for Jewish Literature, Choice Award 2015 |
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Frischer Familienroman aus Georgien Nino Haratischwili: Das achte Leben
Frankfurter Verlagsanstalt, 2014. - 1280 S. In diesem 1300 Seiten starken, vielschichtigen Roman erzählt die Autorin die Geschichte ihrer Heimat Georgien. Sie lässt uns am Schicksal einer Familie über sechs Generationen hinweg teilnehmen, in dem sich das gesamte zwanzigste Jahrhundert widerspiegelt. Georgien zur Zarenzeit. Das Schicksal der Figuren ist eng mit der tatsächlichen sowjetisch georgischen Geschichte verbunden. Die Autorin hat hier sehr genau recherchiert und ihre Personen diesen schrecklichen Wirren ausgesetzt. Im Jahr 1900 kommt die Tochter eines wohlhabenden Schokoladenfabrikanten zur Welt. Sie ist eine lebensfrohe Frau und will Tänzerin werden. Ihr Mann, ein junger Weißgardist, wird nach Petrograd abkommandiert, wo dann die russische Revolution ausbricht. Lenin verleibt Georgien dem Sowjetreich ein und mittendrin die Familie Jaschi, die sich mit den verschiedenen Machthabern auseinandersetzen und arrangieren muss. Ergreifend ist das Schicksal der als Schönheit beschriebenen Tante Christine, die einen mächtigen Geheimdienstmann zum Liebhaber hat. Und es ist eine heiße Schokolade, die nach einem nur den Frauen der Familie bekanntem Geheimrezept an den Wendepunkten der Geschichte steht und die jeden, der sie genießt, unglücklich macht. Farbig und packend erzählt die Autorin von Tragödien, Liebe und Hass. Das ganze Kaleidoskop des menschlichen Daseins findet sich in diesem Buch. Ein überaus kluger und bis zur letzten Seite spannender Familienroman mit tiefen Einblicken in die geschichtlichen Verwirrungen des letzten Jahrhunderts in Osteuropa. |
Ari Shavit: Mein Gelobtes Land. Triumph und Tragödie Israels
Bertelsmann, 2013. - 592 S. Keines der bisher über Israel und den Nahen Osten gelesenen Bücher fand ich so spannend und aufklärend wie das von Ari Shavit verfasste Buch „Das Gelobte Land“. Der Autor bekennt sich zu seinem geliebten Land. Zugleich kritisiert er als erklärter Friedensaktivist mit aller Deutlichkeit die historischen und aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entgleisungen in diesem Land. Ari Shavit wurde 1957 in der israelischen Universitätsstadt Rechovot geboren. Er ist Chefkorrespondent und Kolumnist bei der Tageszeitung „Haaretz“. Zur Familie gehören Ehefrau Timna Rosenheimer, Tochter Tamara und die beiden Söhne Michael und Daniel. Es sind die bekannten Themen, die Shavit in seiner Publikation aufgreift: die Gründung des Staates Israel, die agrarwirtschaftliche Erschließung Palästinas durch aufopfernd tätige Einwanderer, die verlustreichen Kriege 1948, 1967 und 1973, die Vertreibung der einheimischen Palästinenser, die friedensfeindlichen Siedleraktivitäten, die geheime Atombombenentwicklung im Dimonakomplex, die existenzbedrohende Gefahr iranischer Atombomben, die wirtschaftlich erfolgreichen Unternehmensgründungen, die schwierige Integration der orientalischen Juden in der israelischen Gesellschaft, die vor allem im Umkreis von Tel Aviv ausufernde Partygesellschaft, die Zerfallsprozesse innerhalb der israelischen Gesellschaft. Anders als seine literarischen Vorgänger untersucht und beschreibt Shavit diese Themen äußerst detailliert. Dazu bedient er sich der Methode langdauernder und intensiver Interviews maßgeblich beteiligter und intellektuell bedeutender Personen. Seine Erkenntnisse daraus sowie seine Schlussfolgerungen haben dadurch authentischen Charakter. Teilweise fragwürdige Schlussfolgerungen, vor allem im letzten, dem 17. Kapitel, machen die Lektüre allerdings diskutabel. Dass seine Zukunftslösungen ausschließlich militärischer und bautechnischer Art (Mauerbau) sind, bedaure ich. Den Weg, den Versuch einer diplomatischen Lösung des Israel-Nahost-Konflikts ohne Waffendrohung schneidet Shavit gar nicht an. Ich halte dem Autoren zugute: Er ging auch dorthin, wo sich das „grausame Gesicht“ des Zionismus zeigte. Einst friedlich entstandene Inseln auf palästinensischem Boden wurden durch falsch verstandenen Patriotismus zerstört. |
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Chimamanda NgoziAdichie: Americanah
S. Fischer, 2014. - 604 S. Americanah - so nennen die Nigerianer Frauen, die sich auf den Weg nach Amerika machen, um dort eine Zukunft zu finden. Das Buch beginnt in einem Friseursalon in einem Vorort von Princeton, in dem keine Weißen wohnen. Ifemelu, eine nigerianische Studentin, will sich dort vor ihrer Heimkehr nach Afrika Zöpfe flechten lassen, weil sie sich nicht länger dem Diktat des Haareglättens beugen will. |
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Ulrich Becher: Murmeljagd
btb, 2011. - 699 S. „Murmeljagd“ erzählt von den wechselnden seelischen Zuständen, die der Schriftsteller Albert Trebla auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in der ersten Zeit seines Exils durchlebt. Als Jagdflieger im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, engagierte sich der aus altem österreichischen Adel entstammende Trebla als überzeugter Sozialist im Kampf gegen Dollfuß. Nach dem „Anschluss“ Österreichs gelingt ihm die notwendig gewordene Flucht über die grüne (in diesem Fall sogar „weiße“ Grenze) in die Schweiz. Zusammen mit seiner Frau Xane, Tochter des berühmten Clowns Giaxa, der in Österreich geblieben ist, versteckt sich Trebla in einem beschaulichen Engadiner Bergdorf. Soweit ein ganz gewöhnlicher Exilroman? Mitnichten. Bechers sprachgewaltiges Werk verblüfft den Leser immer wieder mit ungewöhnlichen Schauplätzen, einem mehr als exzentrisch zu nennenden Personal, mysteriösen Vorfällen und mit viel Humor oder besser gesagt grotesken Erzählsiuationen. Leitmotivisch und progammatisch zieht sich der Eingangssatz „Wissen Sie, Gnädige Frau, es hat wirklich gar keinen Sinn, sentimental zu sein“ durch den Roman. Mit dieser geradezu beiläufigen Floskel aus einem Kasperl-Puppenspiel versucht Trebla, sich und den Menschen in seinem Umfeld die hinter allem stehende Bedrohung erträglich zu machen. Doch in Wirklichkeit finden er und seine Frau in der idyllischen schweizer Bergwelt keine Ruhe. Immer enger zieht sich das Netz aus Verfolgung und Verfolgungswahn. Anklänge an berühmte österreichische Schriftsteller wie Ödön von Horvath, Joseph Roth oder Robert Musil finden sich in diesem Roman sicher nicht zufällig, erhöhen aber das Lesevergnügen. Weder der Autor noch sein Roman „Murmeljagd“ sind bisher einem größeren Publikum bekannt. Becher, geboren 1910 in Berlin, gehörte 1933 zu den zeitgenössischen Schriftstellern, deren Werk der Bücherverbrennung zum Opfer fiel. Gleichzeitg mit dem Jura-Studium begann er in den in den späten 20er-Jahren eine Ausbildung zum Kunstmaler und war ob seines grafischen Talents Meisterschüler von George Grosz. Manche Kritiker vermuten in dieser Ausbildung den Schlüssel von Bechers späterer Vorliebe zu grotesken Sprachspielen in seinem literarischen Werk. Als bekennender Nazigegner musste Becher emigrieren: 1933 nach Wien, 1938 dann in die Schweiz. Über Brasilien gelange er 1944 schießlich nach New York. Schon 1948 kehrte er nach Wien zurück und lebte von 1954 bis zu seinem Tod 1990 in Basel. „Murmeljagd“ wurde wohl schon zu Zeiten der eigenen Exiljahre des Autors begonnen, erschien aber erst 1969 auf dem Buchmarkt. Im Vorfeld des 100. Geburtstags von Ulrich Becher gab es 2009 eine Neuedition des lange vergriffenen Romans. Er gehört zur Lieblingslektüre von Eva Menasse. Die österreichische Autorin hat davon immer mehrere Exemplare zu Hause, falls sie ein Geschenk braucht. Wenn das keine Empfehlung ist! Bechers „Idee war, den Antikriminalroman zu schreiben, der in einer kriminellen Epoche spielt.“ Das ist ihm meines Erachtens gelungen. |
Amos Oz: Judas
Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler. - Suhrkamp, 2015. - 331 S. Es sind Mythen, Verrat und enttäuschte Hoffnungen, über die der israelische Autor sinniert. Dies gelingt ihm auf den drei Erzählebenen Liebe, Religion und Politik – einfühlsam und zugleich rigoros. Düsterer nasswindiger Jerusalemer Winter. Schmuel Asch, 25 Jahre alt, sanftmütig und wenig ansehnlich, bricht sein Studium an der Universität ab, da von seinem Vater kein Geld mehr kommt. Seine Abschlussarbeit „Judas in der Perspektive der Juden“ lässt er liegen. Dann macht auch noch seine Freundin Schluss mit ihm. Er weiß erst mal nicht, wie es weitergehen soll. Da fällt ihm am schwarzen Brett eine Anzeige auf: Ein siebzig Jahre alter Behinderter sucht einen Studenten mit historischem Wissen für abendliche Unterhaltungen. Logis und ein geringer Lohn werden dafür geboten. Schmuel Asch geht darauf ein, halb aus Neugier, und halb, weil er nichts zu verlieren hat. Das Wohnhaus des alten Herrn ist das letzte vor den steinigen Feldern am Rand der Stadt Jerusalem. Schmuel lernt einen streitfreudigen Mann namens Gerschom Wald kennen, der sich mühsam auf Krücken bewegt. Im Haushalt lebt noch Atalja, eine bildhübsche Fünfundvierzigjährige, in die sich Schmuel Hals über Kopf verliebt. Die Beziehung zwischen den beiden Hausbewohnern klärt sich erst nach und nach auf. Dem Geheimnis, dem Schmerz, kommt der Leser ganz allmählich auf die Spur. Im Buch geht es um den Verräter Judas Ischariot, dem zwölften Apostel von Jesus. Schmuel erkennt in Judas den Gründer der christlichen Religion. In nächtelangen Gesprächen mit Wald und Atalja taucht noch ein zweiter Verräter auf: Schealtiel Abrabanel, der Vater von Atalja. Dieser war in der Zeit des Unabhängigkeitskrieges Mitglied von zionistischen Organisationen. Aus diesen wurde er hinauskatapultiert, weil er mit Arabern einen freundschaftlichen Umgang pflegte und ein entschiedener Gegner der Gründung eines jüdischen Staates war. Die geliebte Atalja bleibt für Schmuel trotz zunehmender Nähe zu ihr unerreichbar. Wie im Privatleben gibt es für Amos Oz für den Staat Israel kein glückliches Ende. Zu stark ist die innere Zerrissenheit der Gesellschaft, zu hartnäckig sind die Vorurteile und Denkmuster. Der Autor zitiert den ersten israelischen Staatspräsidenten Chaim Weizmann: „Das ist ein Land, das einem Esel gleicht.“ In dem Roman „Judas“ stehen alle politischen, religiösen und persönlichen Meinungen gleichberechtigt nebeneinander. Der Erzähler vermeidet jeden Versuch, zwischen ihnen zu schlichten. Wer sich für Verräter, für Israel und für Menschen interessiert, sollte dieses Buch lesen. |
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Michel Houellebecq: Unterwerfung
DuMont Buchverl., 2015. - 272 S. Am 7. Januar wurde in Paris das Attentat auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo verübt. Am selben Tag erschien ein Buch, dessen Autor just auf der Titelseite dieses Blattes verulkt wurde. Um was geht es in diesem Buch, und gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen? |
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Paul Maar: In einem tiefen, dunklen Wald...
Oetinger, 1999 . - 144 S. Dies ist eine Empfehlung für alle Mütter, Väter, Großeltern, Tanten, Onkel und anderen Erwachsenen, denen Kinder zwischen 6 und 12 Jahren anvertraut sind. Wer als Vorleserin oder Mitleser je Gefallen an einem Kinderbuch gefunden hat („Pu, der Bär“ vielleicht oder „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“?) – bei der Lektüre dieses Buches könnte sich das erinnerte Vergnügen noch steigern. Und seit dem 27. Februar 2015 hat das Landestheater Tübingen eine originalnahe Bühnenfassung im Programm, die zusätzlich Vergnügen bereitet. Man sollte das Buch vorlesen und dann mit den in Kindern ins Theater gehen. Oder umgekehrt. |
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Lutz Seiler: Kruso
Suhrkamp Verl., 2014. - 483 S. Angelehnt an eine Rezension der ZEIT vom 7. Oktober 2014. „Ein großer Roman über die jüngste deutsche Geschichte, geschrieben in einer wundervollen Sprache, die die Realität ebenso poetisch zu verschlüsseln wie die Geheimnisse der menschlichen Schicksale zu entschlüsseln vermag.“ (ARD, 13.02.2015) Edgar Bendler, genannt „Ed“, die Hauptfigur des Romans, flieht vor einem Trauma, dem Verlust seiner verunglückten Freundin. Er folgt dem Nimbus der Insel Hiddensee, Ziel aller Schiffbrüchigen. "Wer hier ist, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten." Vergeblich irrt Ed auf der Suche nach einem Quartier über die Insel, nächtigt in einer Höhle am Strand; irgendwann ruft ihm ein Mann den zunächst unverständlichen Namen „Kruso“ zu. Zufällig landet er in der Gaststätte „Zum Klausner“ auf dem Dornbusch, wo ihm Kruso tatsächlich über den Weg läuft. Bald findet hier der sogenannte "Vergabeabend" statt. Wie in einem magischen Ritual wird eine Willkommensmahlzeit an die frisch Angekommenen ausgeteilt, bevor die ersehnten Schlafplätze vergeben werden – in Ställen und Kammern, ja sogar im Bett von Gerhart Hauptmann in dessen Museum. Über allem schwebt der Zeremonienmeister Kruso, und als unser Held im Fieberwahn anfängt, laut Gedichte von Georg Trakl zu rezitieren, darf er prompt im Allerheiligsten als "Esskaa" – Seilers Abkürzung für Saisonkraft – arbeiten und wohnen, im Klausner: "Robinson träumt Freitag, und Freitag erscheint." Das Personal des Klausners bildet eine Gemeinschaft von Jüngern, passenderweise zwölf an der Zahl. Allesamt Gestrandete aus dem Rest des Landes, vom Ehepaar am Tresen über Koch und Kellner bis zu den Abwäschern und dem melancholischen Chef Krombach, einstmals im Berliner Palasthotel tätig und nach dem Haarwasser "Exlepäng" riechend. All das wird zusammengehalten von Krusos nahezu unerschöpflicher Energie. Im Hintergrund erklingt "Viola", das Radio, das immerfort den Deutschlandfunk spielt, das mitternächtliche Haydn-Quartett mit der Nationalhymne als Leitmotiv, dazu die während des Sommers anschwellenden Nachrichten über Flüchtlinge in Ungarn und in den Botschaften von Prag und Budapest. Flucht – genau die will Kruso verhindern, hier, wo so viele es über das Meer nach Møn versuchen und dabei umkommen, zumal er den Westen nicht erstrebenswert findet. Stattdessen schwebt ihm eine Geheimgesellschaft von Freien auf der Insel vor, eine Art frühchristliche Gegengesellschaft oder Sekte, vielleicht auch ein "Staat", wie ihn sich der Dichter Stefan George dachte. "Die Insel ist der erste Schritt, verstehst Du, Ed?" Mit seinen von der Stasi beobachteten Aktivitäten, die ein beachtliches Organisationstalent verraten, schwingt sich Kruso zum geheimen Herrscher der Insel auf: "Der Keim der wahren Freiheit, Ed, gedeiht in Unfreiheit." Und der von ihm besonders geliebte Ed bekommt von ihm schiffbrüchige Frauen ins Bett einquartiert, damit er nicht abtrünnig werde. Allerdings entpuppt sich Kruso als der traumatisierteste Schiffbrüchige von allen. Denn er wuchs bei Stiefeltern auf der Insel auf, ist aber der Sohn eines sowjetischen Generals, der nach dem Tod von Krusos Mutter in die Heimat abkommandiert wurde. Und Krusos Schwester verschwand als Kind am Strand, ertrunken oder nicht? Jedenfalls nachdem sie ihrem kleinen Bruder "Hier wartest du so lange und rührst dich nicht weg" aufgetragen hatte – was er fortan befolgte. Doch jetzt haben wir den Frühherbst 1989, auch die treuen, uns ans Herz gewachsenen Jünger verlassen nacheinander die Arche – bis nur noch Ed und Kruso übrig bleiben, zwei Freunde, auf denen der Verlust jeweils einer Frau lastet, bis plötzlich die Gewalt zwischen ihnen ausbricht und irgendwann ein Panzerkreuzer aus dem Nebel auftaucht. Kann das wirklich so gewesen sein, dass ein paar sowjetische Matrosen und ein General damals den verwundeten Helden namens Kruso das Steilufer hinabgetragen und ihn, Salut schießend, in Sicherheit gebracht haben? Seiler verfremdet immer wieder die Realität in eine surreale, teils bedrückende, aber oft auch ziemlich lustige Fantasiewelt, ohne dass darüber die Realität verloren ginge: Genau so war es alles damals in diesem Urlaubsparadies und war es doch nicht. Die Übergänge sind fließend und schwer zu fixieren, die späte DDR als komisch-groteske und zugleich spannende Ansammlung von Hirngespinsten, Hiddensee als magische Insel, eine Traumlandschaft voller düsterer Untiefen und Verrücktheiten. Beim Lesen zu entdecken und aufzudröseln ist in diesem preisgekrönten Roman ein vielschichtiges Geflecht, in manchen Anspielungen und Feinheiten nicht leicht zu entschlüsseln, in seiner Skurrilität, Melancholie und Fremdheit oft nicht unbeteiligt zu ertragen, literarisch kunstvoll komponiert und anregend, dazu immer wieder angereichert mit faszinierenden lyrischen Passagen. Kruso, das ist zum einen ein abenteuerlicher Inselroman in der Tradition des „Robinson“, zum anderen ein philosophischer Roman, der eine große Frage stellt, auch an unsere Gegenwart: Unter welchen zwischenmenschlichen und politischen Bedingungen könnte Freiheit möglich sein? |
Patrick Modiano: Im Café der verlorenen Jugend
Hanser, 2012. - 157 S. In seinem Roman Im Café der verlorenen Jugend lässt Modiano gleich drei Erzähler zu Wort kommen. Der Leser schaut aus unterschiedlichen Perspektiven auf Louki, eine junge Frau, Anfang der 60er Jahre in Paris. Loukis Mutter war Platzanweiserin im Moulin Rouge, und schon als Kind ist Louki gerne abends von zu Hause weggelaufen und hat sich durch das Paris rund um das Moulin Rouge treiben lassen. Aus ihrer Ehe, die auch nur ein Jahr dauert, bricht sie aus und verschwindet. Ihr Ehemann beauftragt einen Detektiv, der sich irgendwann nicht mehr sicher ist, wie er mit dieser verschwundenen Frau umgehen soll. Louki taucht eines Tages im Café der verlorenen Jugend auf. Sie verhält sich unauffällig, spricht anfangs kaum und nimmt nur allmählich Kontakt mit den Stammgästen auf. Hier trifft sie ihren späteren Liebhaber Roland, einen Schriftsteller, mit dem sie immer wieder Streifzüge durch Paris unternimmt. Der Dritte im Bunde der Bewunderer ist der Bergbaustundent Zacharias. Durch die wechselnden Perspektiven bekommt man ein immer genaueres Bild von der jungen Frau und den Stationen ihres Lebens. Und doch bleibt es immer ein wenig schwebend, unscharf und geheimnisvoll.Das ändert sich auch nicht, als im letzten Kapitel Louki selbst zu Wort kommt und von sich erzählt. Dieser Roman ist eine Spurensuche nach der Jugend und einem versunkenen Lebensgefühl. Eine Zeit, die man ganz intensiv gelebt hat, und die dann plötzlich vorbei ist, eine Zeit mit wunderbaren Erfahrungen, aber auch mit Wunden, die man für immer in sich verschließt. Für all das steht das Café der verlorenen Jugend. Man kann sich dem melancholischen, wehmütigen Rhythmus des Buches mit seinen traumschönen Pariser Impressionen nicht entziehen, und man wünscht sich dieses Paris mit seinem ganz besonderen Zauber zurück, um im Café zu sitzen und den Passanten beim Flanieren zuzuschauen. |
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Sari Nusseibeh: Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina
Kunstmann, 2008. - 525 S. Nachtrag zu meiner Leseempfehlung von 2009 Der Autor wurde 1949 als Sohn einer in Jerusalem bedeutenden Familie geboren. Seine Autobiografie reicht bis 2005, die Erstauflage erfolgte 2007. Damit ist der biografische Abschluss etwa knapp 10 Jahre vorbei – die Konfliktsituation ist jedoch bis heute unverändert, das politische Engagement des Autors ebenso. Nach dem Besuch einer christlichen Schule in Jerusalem studiert Nusseibeh bis 1971 in Oxford Philosophie und Geschichte. 1978 promoviert er an der Harvard University in islamischer Philosophie. Sehr bald nach der Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit an der palästinensischen Universität Bir Seit engagiert sich Nusseibeh politisch. 1995 wird er Rektor der Al-Quds-Universität in Jerusalem. In seinem Buch befasst er sich hauptsächlich mit den Fragen: Was ist das Wesen des Nahostkonflikts und wie kann dieser gelöst werden? Der Nahostkonflikt resultiert aus dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Machtstreben Israels gegenüber der einheimischen palästinensischen Bevölkerung. Dem steht die überwiegend ablehnende Haltung der Palästinenser gegenüber, in radikalen Kreisen sogar die grundsätzliche Existenzverweigerung des israelischen Staates. Im „Sechstagekrieg“ Anfang Juni 1967 besetzten israelische Truppen das „West-Jordanland“ und Ost-Jerusalem. Seitdem werden zwei Konfliktlösungen diskutiert, eine davon ist die Gründung eines Palästinenserstaats auf dem Gebiet des West-Jordanlands inklusive des Gazastreifens. UNO-Resolutionen, zahlreiche Friedensverhandlungen, die Madrider Gespräche, der Friedensvertrag von Oslo, Gespräche in Camp David (USA), bringen bis heute keine greifbaren Ergebnisse. Es ist offensichtlich, dass die israelische Politik planmäßig gegen eine solche Lösung arbeitet, indem sie die massive Besiedlung des West-Jordanlands vorantreibt, argumentativ legitimiert als religiös-historisches Anrecht auf „Judäa“ und „Samaria“. Die Zweistaatenbildung – Israel und Palästina – wird und bleibt damit vorerst impraktikabel. Die zweite Alternative ist die Annexion der von Israel besetzten Gebiete und danach die Bildung eines Einheitsstaates, in dem Israelis und Palästinenser als politisch gleichberechtigte Partner leben. Dieser Lösung könnten die Palästinenser zustimmen, in gar keinem Fall jedoch die Israelis, da sie die Auswirkung der demografischen Entwicklung, d.h. den palästinensischen Bevölkerungszuwachs fürchten. Die offensichtlich ausweglose Lage treibt vor allem die Palästinenser zur Verzweiflung. Radikale Kräfte, voran die Hamas, agieren mit Gewaltexzessen – Selbstmordattentaten, Raketenattacken, Überfällen auf israelische Militäreinrichtungen. In dieser aufgeheizten Stimmung haben es auf gewaltlose Lösungen setzende Friedensverfechter wie Sari Nusseibeh selbst in den eigenen Reihen äußerst schwer. Er propagiert „Unser beiderseitiges Interesse an einer besseren Zukunft macht uns objektiv zu Verbündeten.“ (Zitat S. 433) Ich empfehle dieses Buch allen Interessenten, die die schwierige Lage des Nahostkonflikts besser verstehen möchten. Kurt Lange |
Jhumpa Lahiri: Das Tiefland
Rowohlt, 2014. - 521 S. Die beiden Brüder Subash und Udayan wachsen in einem Vorort von Kalkutta auf, in einer Gegend, die „Tiefland“ genannt wird, weil der Monsunregen sie regelmäßig überschwemmt. Sie sind unzertrennlich bis zum College. Da beginnt Udayan ein geheimes Leben bei den Naxaliten, einer maoistischen, revolutionären Gruppe, und Subash geht zum Studium an die Ostküste der USA. Der Kontakt zwischen den Brüdern reißt fast ab. Immerhin erfährt Subash, dass Udayan geheiratet hat. Aber dann erreicht ihn ein Telegramm „Udayan getötet. Komm zurück, wenn du kannst“. Von nun an versucht Subash, die Verantwortung für seinen Bruder mit zu übernehmen. Er heiratet dessen schwangere Frau Gauri und kehrt mit ihr in die USA zurück. Hier versucht er, mit seiner Frau und der Tochter ein normales, glückliches Leben zu führen. Doch das ist für alle Beteiligten angesichts der Vergangenheit nicht möglich. Jhumpa Lahiri ist in London geboren und in Rhode Island (USA) aufgewachsen. Sie hat viel Zeit in Indien verbracht, da ihre Eltern aus der Nähe von Kalkutta stammen. Die Fremdheit zwischen den Kulturen ist ihr Thema. Für ihr erstes Buch Melancholie der Ankunft hat sie 2013 den Pulitzerpreis bekommen. Das Buch ist ungeheuer spannend und lebendig geschrieben. Es gelingt Lahiri, dass der Leser sich mit ihren Figuren identifiziert und sich nichts sehnlicher wünscht, als dass Subash, dieser liebevolle Ehemann und Vater, endlich glücklich werden möge. Renate Overbeck |
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Alex Capus: Skidoo. Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens
Hanser, 2012. - 76 S. Alex Capus beginnt seine Reise durch die Geisterstädte Amerikas in Bodie, das ich aus eigener Anschauung kenne und zum Besuch sehr empfehlen kann. Das Leben war hart in dieser Goldgräberstadt, die 2554 m hoch liegt und wo es im Winter eisig kalt ist. Man kann sich das sehr gut vorstellen. „Die Minenarbeiter starben wie die Fliegen an Diphterie und Lungenentzündung“ - und mussten beerdigt werden. Die Erde war so hart gefroren, dass im Januar 1877 die Gruben mit Dynamit ausgehoben werden mussten. Die prunkvollsten Beerdigungen hielten die Chinesen ab: "Damit es der Seele an nichts fehlte, legten die Chinesen dem Verstorbenen ihrer Tradition gemäß allerlei Speisen aufs Grab. Der Wind trug den Duft von Frühlingsrollen, Kanton-Reis und süß-saurer Entenbrust hinter die umliegenden Hügel, wo er nicht nur das Interesse der Wölfe und Bären weckte, sondern auch jenes der Paiute-Indianer, denen gegen Ende des Winters oft die Vorräte knapp wurden. Es ist historisch verbürgt, dass die Paiute sich rasch profunde ethnologische Kenntnisse der chinesischen Bestattungsrituale aneigneten, und weil sie ihrerseits die Technik des lautlosen und unsichtbaren Anschleichens perfekt beherrschten, fanden nach den chinesischen Beerdigungen in den Paiute-Dörfern immer die schönsten Festmahle statt.“ "Also stieg ich den Stammbaum seiner Ahnen hinunter von Zweig zu Zweig, von Ast zu Ast durch die Jahrhunderte – und gelangte schließlich zur Überzeugung, dass Louis eben doch ein Oltner gewesen sein muss. Ziemlich sicher. Sehr wahrscheinlich. Ausgeschlossen ist es jedenfalls nicht." Da ist er, der für Capus typische Humor. Das Buch ist klein, verspricht aber 60 Minuten reines Lesevergnügen. Renate Overbeck |
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Ljudmilla Ulitzkaja: Das grüne Zelt
Hanser, 2012. - 589 S. In einem großen epochalen Roman, der die Zeit nach Stalins Tod von 1953-1990 umfasst, beschreibt die Autorin anhand dreier Freunde das schwierige Leben der „Intelligenzia“ in der damaligen Sowjetunion. Ilja, Micha und Sanja sind allesamt Sonderlinge und Einzelgänger. Sie haben gemeinsam einen engagierten Literaturlehrer, der ihnen folgenden Satz beibringt: Die Literatur ist das Einzige, was dem Menschen hilft zu überleben, sich mit seiner Zeit zu versöhnen. Durch ihr Interesse an Kunst und Literatur geraten sie bald in Widerspruch zu der russischen Regierung und schließen sich der sowjetischen Dissidentenbewegung an. Für Ilja steht schon früh fest, dass er Fotograf werden möchte, er macht von der Massenhysterie an Stalins Todestag Bilder und kommt dabei beinahe selbst ums Leben. Micha schreibt Gedichte und kopiert gemeinsam mit Ilja verbotene russische Literatur. Wegen seiner Nähe zum Samisdat kommt er in Haft. Sanja wäre gerne Musiker geworden, aber aufgrund einer Verletzung ist er dazu nicht mehr in der Lage. Die drei Freunde werden vom KGB ins Visier genommen, und als sich herausstellt, dass Ilja auch als Spitzel für den KGB tätig war, muss er fliehen und seine Familie zurücklassen. Auch Micha soll wieder inhaftiert werden, doch er zieht den Freitod vor. Jetzt hält auch Sanja nichts mehr in Russland, und auch er flieht ins Ausland. Ulitzkaja beschreibt großartig ein vielschichtiges Gesellschaftspanorama und erzählt diese komplexe Geschichte immer wieder in einem leichten und manchmal auch deftigen, humorvollen Ton. Ein fesselndes Buch,das einem Einblicke in die Zwangslage von Menschen in totalitären Staaten ermöglicht. Ingrid Kießling |
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Andrej Longo: Das Sonnenblumenfeld
Insel Verl., 2012. - 192 S. In diesem nur scheinbar leichtgewichtigen Buch nimmt Andrej Longo den Leser mit in den tiefen Süden Italiens – in eines jener halb vergessenen Dörfer. Kalabrien, Apulien oder Sizilien geht einem dabei ganz unwillkürlich durch den Kopf. Man könnte dort Urlaub machen zwischen Meer, Sonnenblumenfeldern und einsamen Bergen. In einem Ort, in dem heute noch jahrhundertealte Traditionen wie selbstverständlich weiterleben, jeder jeden kennt und in der örtlichen Gemeinschaft jeder seinen festen Platz hat. Ein Ort, in dem die Gegensätze zwischen Tradition und Moderne sich zusammenfügen. Und genau hier hakt das Buch ein. |
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Jean Echenoz: 14
Hanser, 2014. - 124 S. Pünktlich zum Gedenken an den Kriegsbeginn 1914 ist die Übersetzung des Romans von Jean Echenoz erschienen. In diesem kleinen Buch (es hat nur 125 Seiten) schildert Echenoz unter Verzicht auf jegliches Pathos die Gräuel des Krieges. August 1914: Ein paar junge Männer aus einem kleinen Dorf in der Vendée brechen unter dem Jubel der Bevölkerung auf. Es folgt eine lange Bahnfahrt, tagelange Fußmärsche, die Nahrung wird knapp. Immer noch wissen sie nicht genau, was ihnen bevorsteht. Eines Tages hören sie Kanonendonner und Schüsse. „Jetzt begriffen sie wirklich, dass sie kämpfen, sich zum ersten Mal in den Einsatz begeben mussten, doch bis zu den ersten Geschosseinschlägen ganz in seiner Nähe mochte Anthime es immer noch nicht so ganz glauben. (…) So ging es den ganzen Herbst über, am Ende war das Marschieren zu einem Automatismus geworden, schließlich vergaßen sie beinahe, dass sie marschierten.“ Der Winter zwingt sie dann in die Schützengräben. „So gruben sie sich hier ein, wobei sie jeden Tag versuchten, je nach Laune ihrer Kommandanten ein Maximum von denen gegenüber zu töten und ein Minimum an Terrain zu gewinnen.“ Relativ monotone Phasen, die aus Putzen, Nachtwachen und Exerzieren bestehen, wechseln sich ab mit brutalen Bombardements. |
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Ruth Kinet: Israel. Ein Länderportrait
Links, 2013. - 199 S. Obwohl der BBC World Service jährlich aus weltweiten Umfragen feststellt, dass Israel zu den unpopulärsten Ländern der Welt zählt, wächst die Zahl der Touristen, die Israel besuchen, ständig. Diesem im Vorwort des Buches eingestreuten Hinweis folgt die eindeutige Aufforderung an die Leser: „Fahren Sie nach Israel! Fahren Sie mit offenen Augen und einem offenen Herzen. Wenn Sie dazu bereit sind, dann wird diese Reise ihren Blick auf viele Dinge verändern.“ Auf welche Themen konzentriert sich die Autorin in ihrem Buch? Ruth Kinet betrachtet den ausgeprägt kollektiven Lebensstil in den Familien, im Freundeskreis und in der alltäglichen Öffentlichkeit. Vielleicht resultiert diese Verhaltensform aus einem alten rabbinischen Gebot, das die gegenseitige Verantwortung aller Individuen vorschreibt. Kommunikativ unterstützt dies die ausgeprägte Vernetzung zwischen Taktgebern und Mitspielern. In einem weiteren Kapitel befasst sich die Autorin mit der Zukunftsausrichtung der Familie im Konsens mit der gesellschaftlichen Erwartungshaltung. Bis zum dreißigsten Lebensjahr, nach Studium, Berufsausbildung und Militärdienst, wird geheiratet, und dann werden wenigstens zwei, drei Kinder gezeugt. Einen großen Platz nimmt sodann das Thema des Umgangs mit „den Anderen“ ein. Die Anderen sind Gesellschaftsgruppen, die nicht in das gewöhnliche Verhaltensmuster passen: Politikverdrossene, Religionsfanatiker und -verdrossene, Behinderte, Fremdarbeiter, arabischstämmige Israelis und die Palästinenser. Dazu folgende Anmerkung der Autorin: Der Staat Israel hat keine Verfassung. Lediglich die Unabhängigkeitserklärung vom 15. Mai 1948, in der das Wort Demokratie nicht vorkommt, definiert das Staatswesen Israels. Darin wird den Bürgern des Staates Israel soziale und politische Gleichberechtigung ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht zugesichert. Rechtspositionen gesellschaftlich Benachteiligter sind jedoch meist erfolglos einklagbar. Hinzu kommt das merkwürdigste Phänomen innerhalb der israelischen Gesellschaft: die religiöse Spaltung. Etwa 10 Prozent der jüdischen Bevölkerung (ca. 600 000 Israelis) sind Ultraorthodoxe, ihrem Äußeren und ihren Lebensgewohnheiten nach von der Mehrheitsgesellschaft deutlich abgehoben. Der Begriff ultraorthodox kann mit streng religiös übersetzt werden. Obwohl gegenüber der Gesamtbevölkerung in der Minderheit und von der säkularen Mehrheit herablassend als Belastung des Gemeinwesens und als Schmarotzer verspottet, genießen die Ultraorthodoxen eine Reihe gesellschaftlicher Vorrechte: sie zahlen keine Steuern, erhalten aus Steuermitteln zahlreiche Sozialleistungen, beteiligen sich nur in wenigen Ausnahmefällen am Arbeitsleben und sind sogar vom Militärdienst befreit. Die „ultimativ Anderen“ sind die etwa 1,6 Mio. arabischen Israelis, die aus der israelischen Gesellschaft konsequent ausgegrenzt sind. Zwar ist diese Volksgruppe mit 10 Sitzen im israelischen Parlament, der Knesset, vertreten. Doch wurden über Jahrzehnte hinweg Gesetze erlassen, die die Rechte dieser Bürger stark einschränken. Ein weiteres Kapitel ist visionären Lebensentwürfen einzelner Pioniere und Idealisten gewidmet. Diese stehen für Aufbruch und Neuanfang in einer von Bedrängungen belasteten Gesellschaft. Zum Schluss gibt Ruth Kinet noch einen Einblick in den wöchentlichen Lebensrhythmus der jüdischen Israelis. Die ersten fünf Wochentage sind von Betriebsamkeit, Tempo und Telefon bestimmt. Am sechsten Tag erfolgt ein allmählicher konsequenter Schwenk zum Müßiggang. Und am siebten Tag, dem Schabbat, herrscht absolute Ruhe – öffentlich und in den Familien. Die Autorin, geboren 1972, mit belgischer Herkunft, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in Augsburg und Berlin. Sie promovierte über das koloniale Unternehmen Belgiens im Kongo. Weiterhin absolvierte sie die Journalistenschule ifp in München. Sie lebte von 2007 bis 2012 in Tel Aviv und berichtete als Korrespondentin des Netzwerks weltreporter.net für Hörfunk und TV. Heute lebt R. K. als freie Journalistin in Berlin (Biografische Vermerke teilweise aus dem Klappentext). Kurt Lange |
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Georges Perec: Der Condottiere
Aus d. Franz. und mit einem Nachwort von Jürgen Ritte. - Hanser Verl., 2013. - 159 S. „Madera war schwer.“ So beginnt ein Roman, den Georges Perec im Alter von 23 Jahren schrieb, und der jetzt, 30 Jahre nach seinem Tod, entdeckt, herausgegeben und ins Deutsche übersetzt worden ist. Anatole Madera ist der Auftraggeber von Gaspard Winckler, der für ihn Bilder fälscht, und der ihn jetzt ermordet hat und die Treppe herunter schaffen muss. Der Roman spielt also in einem Milieu, das dem Leser in Anbetracht der derzeit fast täglichen Berichte über Kunstfälscher, Kunsthändler und Kunstexperten nicht ganz unbekannt ist. Wie in einem Kriminalroman gibt es einen Mord und die Flucht des Täters, die offenbar gelingt, denn es folgt ein langer Dialog mit einem Freund oder Bekannten über das Tatmotiv. Und hier schlägt der Kriminalroman in einen Künstlerroman um. Wir erfahren, dass Gaspard Winckler, der schon Hunderte von Bildern erfolgreich gefälscht hat, an dem Porträt des „Condottiere“ von Antonello von Messina gescheitert ist. Plötzlich wird ihm klar, dass er in Unfreiheit gelebt hat, abhängig von seinem Auftraggeber Madera, dem Kunsthändler Rufus und den großen Malern, die er zu kopieren sucht. Der Mord war ein Akt der Befreiung, der ihm die Möglichkeit eröffnen wird, ein wahrer Künstler zu werden. „Fälscher tot, es lebe Gaspard…Natürlich…Vielleicht in ein paar Jahren…“ Ein Gaspard Winckler taucht übrigens auch in Perecs Hauptwerk „Das Leben. Gebrauchsanweisung“ auf. Da ist er ein begnadeter Puzzle-Hersteller, dem es gelingt, seinen verhassten Auftraggeber mit einem raffinierten Puzzle zur Verzweiflung und schließlich in den Tod zu treiben. Aber das ist eine andere Geschichte… Renate Overbeck |
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Sybille Lewitscharoff: Apostoloff
Gekürzte Lesung. Gelesen von der Autorin. - Der HörVerlag, 2009. - 331 Min. Urlaub in Bulgarien. Wer den Roman „Apostoloff“ von Sibylle Lewitscharoff liest, dem vergeht wahrscheinlich die Lust, dorthin zu reisen. Das Land erscheint der Autorin grau, die Städte, die Hotels, der Strand, die Bulgaren, vor allem die bulgarischen Männer, und der Friedhof in Sofia erscheinen ihr ekelhaft grau. Frau L. urteilt und spottet unerbittlich und gnadenlos. Dem Roman, geschrieben in Ich-Form, liegt eine herbe biografische Erfahrung zugrunde: der ihr unverständliche Freitod ihres noch jungen bulgarischen Vaters. Dieses Ereignis versucht die Schriftstellerin satirisch zu verarbeiten. Auf der beschriebenen Reise, angetreten nach der feierlichen Bestattung der auf skurrile Weise nach Sofia transportierten Urnen ihres Vaters und anderer in der Diaspora verstorbenen Bulgaren, quillt ihr Spott über. In dem Kleinwagen sitzt sie auf der Rückbank und kommentiert giftig ihre Eindrücke. Vorne rechts sitzt ihre konziliantere ältere Schwester, deren höfliche Zurückhaltung der Nörglerin erst recht zuwider ist. Bleibt noch der Fahrer des Autos: Rumen Apostoloff. Er ist ein junger lebenslustiger Bulgare, der den beiden Touristinnen die Schätze seines Landes zeigen möchte. Aber das herrliche Kobaltblau des Pfauenaugendekors auf der Keramik ist giftig, die Schwarzmeerküste ist „komplett versaut“ und die Architektur in den Städten ist das betonierte Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Sogar Apostoloff erreicht der Spott der hinten Sitzenden, vor allem, als die Schwester rührende Gefühle zeigt. Als die feierliche Urnengrablegung der verstorbenen Bulgaren beendet ist, zitiert die Autorin ihren Vater: „Ihr könnt mich mal kreuzweise“, bezeichnet diese Äußerung allerdings als ihre Erfindung. Und alles Weitere bleibt geheim. So ist das letzte Kapitel des Romans betitelt. Sibylle Lewitscharoff wurde 1954 in Stuttgart-Degerloch geboren. Das von ihr gelesene Hörbuch zeugt sprachlich von ihrer schwäbischen Herkunft aus der mütterlichen Familie. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, den Ricarda-Huch-Preis und im Oktober 2013 den Georg-Büchner-Preis. Kurt Lange |
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Kurt Held: Die rote Zora und ihre Bande
Fischer Sauerländer, 2012. - 384 S.
Lisa Tetzner: Die schwarzen Brüder
Fischer Sauerländer, 2013. - 496 S. Zu den zahlreichen Emigranten, die nach 1933 aus Deutschland in die Schweiz kamen, gehörten neben Thomas Mann auch die Eheleute Kläber, Kurt und Lisa, die sich im Tessin niederließen. Kurt Kläber war Schriftsteller – und außerdem Sozialist. Da diese Kombination in der Schweiz zumindest bei den Behörden ganz und gar nicht beliebt war, durfte Kläber in der Schweiz nicht publizieren. |
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Alex Capus: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer
Hanser, 2013. - 272 S. Mit den Lebensläufen der drei im Titel genannten Personen führt uns Alex Capus in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er beginnt im November 1924, ein Datum, an dem die drei sich in Zürich hätten begegnen können – eine trotz der genauen Angabe von Zeit und Ort leicht als fiktionale Konstruktion durchschaubare Ausgangssituation. Die drei kennen sich nicht und werden sich auch im weiteren Verlauf nicht kennen lernen. Die beiden Männer sind ein hochbegabter Naturwissenschaftler und ein hochbegabter Kunstmaler. Die Frau ist damals erst 13 Jahre alt, sie wird Sängerin werden, aber für ihr Schicksal entscheidend werden wird auch ihre Mehrsprachigkeit. Abwechselnd begleitet nun der Erzähler diese so verschiedenen außergewöhnlichen Menschen durch die nächsten zwei Jahrzehnte. Alle drei sind integre, liebenswerte Persönlichkeiten, die mit ihrem Leben etwas Rechtes anfangen wollen, sich um ihre Familie kümmern, sich in den Dienst einer Sache stellen. Gespannt verfolgt der auf ihre Lebenswege mitgenommene Leser, wie sie auf die Umstände, in die der Lauf des Jahrhunderts sie führt, reagieren und wie diese Umstände und ihr großes Können sie Schritt für Schritt geradezu zwingend zum Fälscher, zur Spionin und zum Bombenbauer machen. Das wird so anschaulich und nachvollziehbar erzählt, dass man die Stelle nicht findet, wo sie hätten nein sagen oder sich anders verhalten sollen. Besonders schmerzlich empfindet man diesen fatalen Zug in der Geschichte des Naturwissenschaftlers: 1924, mit 19 Jahren, hat er sich vorgenommen, etwas ganz Zweckfreies zu machen, „etwas Schönes und Nutzloses“. Er ist ein bedeutender Physiker geworden, der ab dem Frühjahr 1943 – angesichts der drohenden Gefahr eines deutschen Vorsprungs – nicht anders kann als sich an der Entwicklung der amerikanischen Atombombe zu beteiligen. Der Physiker heißt Felix Bloch, im Roman wie in der Wirklichkeit. 1952 bekam er den Nobelpreis. Auch die beiden anderen Personen haben tatsächlich gelebt. Mit den Fakten geht der Autor sorgfältig um. Das gilt für Daten und Fachbegriffe bis zu Details wie Bahnlinien oder die Firma WMF. Wie schon der Anfang zeigt, lässt er aber auch die Phantasie seines Erzählers an der Geschichte mitschreiben, wenn dieser sich z.B. mit einem „Ich stelle mir vor, dass...“ einmischt - und so wird die Lektüre richtig fesselnd. |
Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren
Beck Verl. 2013. – 125 S. Darauf muss man erst einmal kommen: dass die Finanzkrise die Tendenz hat, sich zu einer „unerhörten Begebenheit“ zuzuspitzen und damit tauglicher Stoff für eine klassische Novelle zu sein. Der Schweizer Jonas Lüscher – Jahrgang 1976, ausgebildeter Primarschullehrer und nach Tätigkeit in der Filmindustrie nun Philosophie-Doktorand – hat das Potential erkannt und für ein literarisches Debüt genutzt, das von der Kritik hoch gelobt wird. Reinbert Tabbert |
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Taiye Selasi: Diese Dinge geschehen nicht einfach so
S. Fischer Verlag, 2013. - 400 S. Der Roman „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ beginnt mit dem Herztod des Vaters Kweku Sai und endet im Haus der Mutter Folasadè Savage in Accra (Ghana). Dort haben sich die vier erwachsenen Kinder Olu (Arzt), Taiwo (Juristin), Kehinde (Künstler) und Sadie (College-Studentin) aus England und den USA zur Beerdigung des Vaters eingefunden. Dazwischen entfaltet sich in drei etwa gleich langen und mit „Abschied“, „Aufruhr“ und „Aufbruch“ überschriebenen Kapiteln eine eindrückliche und zugleich fesselnde Familiengeschichte. Kweku Sai, erfolgreicher Chirurg in Boston, verlässt ohne Vorwarnung Frau und Kinder, nachdem ihm ein vermeintlicher ärztlicher Kunstfehler vorgeworfen worden war. Im Bemühen, in diesem Fall juristisch Recht zu bekommen, hatte er obendrein sein ganzes Geld aufs Spiel gesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Einwandererfamilie mit afrikanischen Wurzeln äußerlich in der Oststaaten-Mittelschicht angekommen. Erzählt wird nun, wie die Ehefrau und die vier Kinder, jeder für sich, auf diese neue Situation reagiert haben, welche Verletzungen und Traumata entstanden sind, und welche Auswirkungen diese auf das weitere Lebens jedes Einzelnen hatten. Mit großer sprachlicher Eindringlichkeit schildert die Autorin die graduellen Unterschiede zwischen der genuinen Oststaaten-Mittelschicht und den gesellschaftlich erfolgreichen Einwandererfamilien. „Angekommensein“ heißt noch lange nicht „Dazugehören“. Der „Gott der Bestätigung“ ist ständiger Begleiter auf der beruflichen Karriereleiter der allesamt überdurchschnittlich begabten Kinder. Umso tröstlicher: Nachdem alles, was sich zwischen dem Weggang des Vaters und seinem Tod ereignet hat, zur Sprache gekommen ist, und nachdem alle Verletzungen benannt sind, scheint es für diese lange in alle Himmelsrichtungen versprengte Familie wieder eine Perspektive zu geben. Vielleicht ist der Weihnachtsbaum, unter dem sich alle einige Tage nach der Beerdigung des Vaters im heißen Ghana versammeln wollen, allzu bemüht. Der Lektüre tut dies keinen Abbruch. Ein sehr lesenswerter Roman und ein wichtiges Buch in unserer zunehmend globalisierten Welt. Dies umso mehr, als sich die Autorin Taiye Selasi als „Afropolitan“ begreift, einer neuen Generation von Weltbürgern mit afrikanischen Wurzeln zugehörig. Ihre Eltern stammen aus Ghana, sie selbst ist in London geboren und in Massachusetts aufgewachsen. Heute lebt sie in Rom. |
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Lesesommer: Empfehlungen für Kinder und Jugendliche
Bilderbücher: |
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Kate Atkinson: Das vergessene Kind
Droemer, 2010. - 454 S. Statt wie auf Deutsch etwas blutleer „Das vergessene Kind“ heißt Kate Atkinsons Krimi im englischen Original „Started Early, Took My Dog“ - diese Worte sind einem Gedicht von Emily Dickinson entnommen und geben über diese Verbindung gleich einen Hinweis auf die Grundstimmung, die in dem Buch herrscht: tiefgründig, etwas melancholisch und ganz eigen. Zahlreiche Zitate aus Dickinsons Gedichten und anderen literarischen Werken, Sprichworte, Slogans und Satzfetzen sind im Text verstreut; erkennt man sie, verleihen sie der Handlung eine weitere Bedeutungsebene, falls nicht, schmälert das keineswegs das Lesevergnügen. |
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Kathryn Stockett: Gute Geister
btb Verlag, 2010. - 605 S. Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand in unserer Familie Demetrie je gefragt hat, wie es sich anfühlte, eine schwarze Frau in Mississippi zu sein und für unsere weiße Familie zu arbeiten. Wir wären gar nicht auf die Idee gekommen, eine solche Frage zu stellen.“ So beschreibt die Autorin ihren eigenen familiären Hintergrund und die Rassentrennung in den Südstaaten der USA in den 60er Jahren, die sie zu dem Roman inspiriert haben. Eugenia Phelan, genannt Skeeter, 23 Jahre alt, kommt nach dem Studium auf die Baumwollfarm ihrer Eltern zurück. Sie hat andere Ziele als ihre Schulfreundinnen, die verheiratet sind, Bridge und Tennis spielen und den Haushalt und die Kinder den schwarzen „Nannies“ überlassen. Sie will Journalistin werden. Aibileen ist 52 Jahre alt und hat schon 17 weiße Babys großgezogen. Sie liebt sie und wird von ihnen „Mama“ genannt. Aber wenn die Kinder größer und „verständiger“ werden, muss sie gehen. Minny ist ebenfalls eine schwarze Haushaltshilfe. Sie riskiert, immer wieder gefeuert zu werden wegen ihres losen Mundwerks. Sie ist eine exzellente Köchin und nutzt ihr Talent auf schamlose Weise, um sich zu rächen, als man sie fälschlicherweise des Diebstahls bezichtigt. Der Roman erzählt, wie sich die drei Frauen aus unterschiedlichen Motiven zusammentun, um ein Buch über die Situation schwarzer Haushaltshilfen zu schreiben – für alle drei ein gefährliches Unterfangen, aber auch ein Akt der Emanzipation. Das amerikanische Original, „The Help“, bezieht einen Teil seines Charmes aus den unterschiedlichen Sprachebenen, in der deutschen Übersetzung wirkt der Slang der Schwarzen etwas bemüht. Doch eine spannende Ferienlektüre ist es allemal. Renate Overbeck |
Vea Kaiser: Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam
Kiepenheuer & Witsch, 2012. - 491 S. „Beiden Eheleuten lag etwas im Bauch: Elisabeth war schwanger, Johannes hatte einen Bandwurm“. So beginnt die fulminante und farbenprächtige Erzählung von Vea Kaiser. Die Geschichte spielt im fiktiven St. Peter am Anger, irgendwo in den österreichischen Alpen, umringt von Viertausendern am Alpenhauptkamm. Es ist ein kleines, von der Außenwelt abgeschnittenes Dorf, das sich jedem Fortschritt nur langsam öffnet, und die Dorfbewohner - immer als Bergbarbaren bezeichnet - sind alle irgendwie miteinander verwandt. Man bleibt unter sich und ist so auch völlig mit sich im Reinen. Der erste, der das Dorf verlässt, ist Johannes Gerlitzen, der aufgrund seines Bandwurms Arzt und erfolgreicher Bandwurmforscher wird. Den gleichen Forscherdrang hat einige Jahre später auch sein Enkel, Johannes A. Irrwein, der eigentliche Protagonist der Geschichte. Gegen den Widerstand seiner Eltern zieht er hinab ins Tal, um dort aufs Stiftsgymnasium gehen zu können. Er liebt die Altphilologie und hasst das Dorfleben. Allein schon durch seine Sprache grenzt er sich ab. Er spricht keinen Dialekt, sondern die Hochsprache, was in diesem Dorf nicht gut ankommt. Nach verpatzter Matura kehrt er zurück und beschließt wie sein großes Vorbild, Herodot, Chronist dieses Dorfes zu werden und das Leben der Bergbarbaren zu dokumentieren. Schnell wird er gegen seinen Willen immer mehr ins Dorfleben eingebunden und sogar Schriftführer beim örtlichen Fußballverein. Vea Kaiser hat einen prachtvollen und üppigen Roman über das Dorfleben und die Eigenheiten der Dorfbewohner geschrieben.Es kommen nicht nur Kirchtürme und Bauern darin vor, sondern auch eine Seifenkiste mit Kurs auf den Mond, ein attraktiver Mönch im Jaguar, eine nordic-walkende Mütterrunde und vieles mehr. Es ist ein furioser Entwicklungsroman über den jungen Johannes A. Irrwein, der trotz anfänglicher Abneigung das gewachsene Miteinander der Dorfgemeinschaft kennen und schätzen lernt. Es ist eine Familiensaga über drei Generationen hinweg, und es ist auch eine Provinzsatire, ein Schelmenstück. Das Buch hat eine Fülle an skurrilen Charakteren, z.B.die Dorfältesten, die immer noch Politik im Wirtshaus machen und jegliche Innovation verweigern oder auch ein begnadeter Fußballspieler und seine schöne Angebetete. Wer Lust an toller Fabulierkunst hat, an unglaublich vielen witzigen Ideen und sich dabei prächtig amüsieren möchte, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt. Ingrid Kießling |
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Ursula Krechel: Landgericht
Jung und Jung, 2012. - 495 S. Ursula Krechel, 1947 in Trier geboren, studierte Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte, Dr. phil., Gastprofessorin, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin - mehrere Gedichtbände, vielfach ausgezeichnet. Für ihren 2. Roman „Landgericht“ erhielt sie den „Deutschen Buchpreis“ 2012. „Er war angekommen.“ Mit diesem kurzen Satz beginnt der umfangreiche Roman „Landgericht“. 1947 in Lindau angekommen ist der Richter Dr. Richard Kornitzer. Nach fast zehnjährigem Exil in Kuba kehrt er nach Deutschland zurück, zurück zu seiner Frau, die in einem Dorf am Bodensee den Krieg überlebt hat. Gleich zu Beginn der Nazi-Diktatur war der junge Jurist 1933 wegen seiner jüdischen Abkunft aus dem Justizdienst in Berlin entlassen worden. Obwohl mit einer protestantischen „Arierin“ verheiratet und selber protestantisch geworden, gab es für ihn in Deutschland keine Zukunft. Um die Kinder zu retten – 1938 vier und sieben Jahre alt -, vertrauten die Eltern sie einer Übersiedlungsaktion nach England an. Kornitzer selbst konnte nach Kuba fliehen. Seine Frau sollte folgen, da brach 1939 der Krieg aus. Ins zerstörte Deutschland zurückgekehrt, versucht Kornitzer, an sein früheres Leben wieder anzuknüpfen. Seine Frau und er sind auch nach zehn Jahren Trennung in Liebe einander zugetan. Den Kindern jedoch, bei verschiedenen Pflegeeltern in England aufgewachsen, sind ihre Eltern nach dieser langen Zeit fremd geworden. In seinem Beruf kann Kornitzer wieder arbeiten, er wird Richter am Landgericht im stark zerstörten Mainz. Chronikartig nüchtern und eindringlich-bewegend erzählt Ursula Krechel die Geschichte einer Familie, die durch den aggressiven Rassenwahn auseinander gerissen wurde. Gleichzeitig vermittelt sie charakteristische Einblicke in die Nachkriegzeit und ersten Jahre der Bundesrepublik Deutschland. In der Gemengelage von Entnazifizierung, Wiederaufbau und Fortbestehen nazistischer Haltungen erfährt Kornitzer erneut Abwehr. Er ist nicht wirklich „angekommen“, leidet unter Spätschäden und Verfolgungsängsten. Rückblenden schildern die Unterdrückung der Ausgesonderten in Berlin, die Drangsalierung auch der „arischen“ Ehefrau, das unsichere Überleben in Kuba und schmerzhafte Erfahrungen der Kinder in England. Der Roman erzählt von tiefen Schäden, die einer Familie wie dem ganzen Land zugefügt wurden. „Landgericht“ – ein beziehungsreich-vielschichtiger Titel. Diese Geschichte brauchte die Autorin nicht zu erfinden, sie hat aus geschichtlichen Quellen geschöpft. So steht das Buch in der Tradition des poetischen Realismus, des großen Theodor Fontane – „Finden, nicht Erfinden“. „Landgericht“ ist auch ein bewegender Gesellschafts- und Geschichtsroman. Theodor Karst |
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Daniel Pennac: Wie ein Roman
Kiepenheuer & Witsch, 1994. - 197 S. "Sie haben das vielfältige Aussehen ihrer Zeit: hip-bag und Biker-Stiefel für den Rocker vom Dienst, Burlington und Chevignon für den Modebewussten, Perfecto-Lederjacke für den Motorradfahrer ohne Motorrad, lange Haare oder strenge Bürste je nach den familiären Einflüssen… Um ein Mädchen wallt das Hemd seines Vaters, das bis an die zerrissenen Knie der Jeans reicht, eine andere hat sich die schwarze Silhouette einer sizilianischen Witwe gegeben („diese Welt geht mich nichts mehr an“), während dagegen die blonde Nachbarin ganz auf Ästhetik gesetzt hat: Mannequinkörper und sorgsam glasiertes Titelblattgesicht. Gerade eben haben sie Mumps und Masern hinter sich gebracht, und schon sind sie in dem Alter, in dem man jede Mode mitmacht. (…) Und, natürlich, man liest nicht gern. Ein zu großer Wortschatz in den Büchern. Auch zu viele Seiten. Alles in allem zu viele Bücher. (…) Daniel Pennac ist Lehrer und Schriftsteller. Er hat schöne und ideenreiche Kinderbücher (zum Beispiel über die Frage, wie man den Fremdsprachenunterricht interessanter machen könnte) geschrieben und spannende, lustige Multikulti–Krimis um die Patchwork-Familie Malaussène, die, wie er selbst, im Stadtteil Belleville in Paris lebt. |
Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter. Erzählung einer Jugend
Hanser, 2012. - 314 S. Karl Heinz Bohrer wurde 1932 in Köln geboren. Als Literaturwissenschaftler hat er das Literaturblatt der FAZ geleitet und als Professor in Bielefeld und Stanford (USA) gelehrt. Er lebt in London und Paris. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Faszination, die von den Granatsplittern ausgeht. Sie geben dem ganzen Buch den Titel, gelten im engeren Sinn für das erste Drittel, die Kriegsjahre, in denen der Junge die Zerstörung der Heimatstadt Köln erlebt. Nach den zunächst „nur“ nächtlichen Bombenangriffen finden die Kinder auf dem Weg zur Schule Metallstücke „von dunkel leuchtendem Rot und Schwarz an den Rändern […], wieder andere waren von gleißendem Gelb oder Silber. Granatsplitter waren das Schönste, was man sich ausdenken konnte. […] Es war wie im Märchen – man war der Held eines Märchens, der etwas Wunderschönes, sehr Fremdes, sehr Seltsames fand.“ Gleichzeitig: „So ein Stück scharfes Metall in die Hand zu nehmen […] Es war das erste Bild des Kriegs für ihn.“ Dieses Bild erweitert sich zu einem großen Panorama der Vernichtung, des Todes und des Zusammenbruchs, auch die Ehe seiner Eltern bricht auseinander. Im 2. Teil des Buchs erzählt Bohrer, wie „der Junge“ in einem süddeutschen Internat die europäische Kultur entdeckt – Literatur, Philosophie, Theater, Geschichte… Eindrucksvoll werden Persönlichkeiten von Mitschülern und Lehrern gezeichnet, Zeitgeschichtliches kommt in den Blick, eine Lehrerin ist die Witwe eines im Widerstand gegen die Diktatur Umgebrachten. Im 3. Teil schließlich weitet sich der Blick durch einen längeren Aufenthalt in England. Im Blick auf die Leser/innen könnte man von einem Mehrgenerationenbuch sprechen: Ältere, Zeitgenossen des Autors, können ihre eigenen Erfahrungen an denen des Erzählers messen. Die Generation der Kinder und Enkel kann ihr geschichtliches Verstehen schulen, indem sie an einem interessant erzählten Leben ihrer Väter- und Großvätergeneration aus deren Zeit heraus teilnimmt. Theodor Karst |
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Chrisoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes
Christian Ransmayrs „Atlas eines ängstlichen Mannes" nimmt den Leser in siebzig Bildern mit auf eine Reise rund um die Welt und hat doch nichts mit der üblichen Reiseliteratur zu tun. Es sind Erinnerungen an Orte, Personen und Geschehnisse, die der Autor, ein Vielreiser, aber kein Reiseabenteurer, selbst er- und überlebt hat. |
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JAZZclub IN DER MITTE e.V.:
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Art Spiegelman: Maus
Fischer, 2009. - 293 S. Dieser Comic oder in dem Fall wirklich besser: Diese Graphic Novel ist meiner Ansicht nach eines der besten Bücher über die Judenverfolgung und den Holocaust. Der erste Band erschien 1989 auf Deutsch unter dem Titel Mein Vater kotzt Geschichte aus, Original: My father bleeds history - bluten erscheint mir treffender als kotzen! Der zweite Band Und hier begann mein Unglück kam 1991 heraus. 1992 bekam Spiegelman dafür den Pulitzer Preis. Erzählt wird das Schicksal von Wladek Spiegelman und Anja Zylberg, die sich 1930 kennen lernen, heiraten und in Sosnowitz ein gutbürgerliches Leben führen. 1938 wird Wladek in die polnische Armee eingezogen, kommt in deutsche Kriegsgefangenschaft, kann fliehen und kehrt nach Sosnowitz zurück. Hier erleben sie die Registrierung von Juden, das Ghetto, das Leben in verschiedenen Verstecken. 1944 werden sie verraten und nach Auschwitz transportiert. Hier endet der erste Band. Der zweite beschreibt den Terror im KZ, die Versuche, durch Anpassung, Beziehungen und Glück zu überleben. Nach der Befreiung finden sich beide in Sosnowitz wieder, emigrieren nach Schweden und dann in die USA. Es mag zunächst befremden, dass das Thema Holocaust als Comic behandelt wird, zumal die Personen als Tiere dargestellt werden: Juden als Mäuse, Nazis als Katzen, Polen als Schweine usw. – und dabei wirken sie ganz menschlich. Sie sind Individuen und lassen sich durch die Tiermasken doch verallgemeinern. Parallel zur Vergangenheit seiner Eltern beschreibt Spiegelman die Gegenwart: Die Verbitterung und den Geiz seines Vaters, der paradoxerweise auch ein Rassist ist, den Selbstmord seiner Mutter, das schwierige Verhältnis zwischen Vater und Sohn: die Nachwirkungen des Holocaust auf mehr als eine Generation. Er thematisiert auch seine Schwierigkeiten beim Schreiben, die ihn zwingen, einen Therapeuten aufzusuchen. Spätestens seit Maus weiß man, dass Comics keine „niedere Literatur“ sind, sondern im Gegenteil eine hoch komplexe Verbindung von Wort und Bild. Zurzeit gibt es eine Retrospektive von Art Spiegelman im Kölner Museum Ludwig. Im September hat er den Unseld Preis bekommen. |
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Neil Gaiman: Sandman
„Sandman ist ein Comic für Intellektuelle. Und das wurde auch Zeit“ so Norman Mailer über die Comic-Serie "The Sandman", die ursprünglich in den Jahren 1989-1996 auf englisch im Verlag DC Comics, einem der größten US-amerikanischen Comic-Verlage, erschien. Die Hauptfigur der Serie - der titelgebende Sandman - ist Dream, der Herr über das Reich der Träume. Zu Beginn der Serie und am Anfang des 20. Jahrhunderts von einem größenwahnsinnigen Schwarzmagier unterworfen und Jahrzehnte lang gefangen gehalten, macht er sich nach seiner Flucht in der Jetztzeit daran, sein Traumreich wieder aufzubauen, sich an seinen Feinden zu rächen und zu seinen Aufgaben zurückzufinden - doch der erneute Prozess der Identitätsfindung gestaltet sich auch für ihn als übermenschliches Wesen komplizierter als gedacht... Dies ist jedoch nur der Ausgangspunkt für einen komplexen, mit ungeheurem Detailreichtum ausgestatteten und vor allem mit unglaublicher Freude am Geschichtenerzählen dargebotenen Plot. Die Handlung bewegt sich durch Zeit, Raum und Fantasiewelten und baut Mythologie, Fabeln und literarische Traditionen aus verschiedenen Kulturen mühelos an- und umeinander. Dabei funktioniert die Serie – auch dies ein Merkmal guter Literatur – auf verschiedenen Ebenen: Die zahllosen literarischen und kulturellen Anspielungen oder die Verknüpfungen zu anderen klassischen Comic-Serien machen Spaß, wenn man sie findet - falls nicht, besitzt die Handlung aber ganz genauso stark die Fähigkeit, die Lesenden in ihren Bann zu ziehen. Als anthropomorphe Verkörperung des Träumens agiert die Hauptfigur Dream zunehmend als tragischer Held, der sich, obwohl übermenschlich, mit ganz grundsätzlichen Fragen des Menschseins auseinandersetzen muss, zum Beispiel mit Fragen der Identität, der Fähigkeit zur Veränderung und der Übernahme von Verantwortung für Konsequenzen des eigenen Handelns. Die Serie schafft dabei auf brillante Weise den Übergang zwischen ernsten Themen wie Tod, Trauer und Grundsatzfragen des menschlichen Daseins und auf der anderen Seite fein humorvollen Szenen, in denen Dream als Mitglied einer Problemfamilie von ewigen Wesenheiten auftritt, zu denen seine Geschwister Destiny (Schicksal), Destruction (Zerstörung), Desire (Begehren), Despair (Verzweiflung) und Delirium (Wahnsinn) gehören. Allein das Auftreten seiner großen Schwester Death, einer freundlichen, klugen, pragmatischen, Mary Poppins zitierenden und unendlich liebenswerten Verkörperung des Todes in Gestalt eines Zylinder tragenden Grufti-Mädchens, lohnt schon die Lektüre der Serie. Geschrieben wurde sie von Neil Gaiman, der sich seitdem als Autor von unter anderem qualitativ hochwertigen Fantasy- und Horrorromanen sowie Kinderliteratur und Filmdrehbüchern einen Namen gemacht hat und im anglo-amerikanischen Sprachraum als Meister seines Fachs gilt. Als einer von bislang sehr wenigen Comics (oder graphic novels) schaffte es die Serie bis auf die Bestsellerliste der New York Times. Eine weitere Besonderheit ist die Umsetzung in Bilder, die verschiedene Illustratoren übernommen haben, wodurch abschnittsweise völlig unterschiedliche Grundstimmungen entstehen und auch die Figuren jeweils leicht unterschiedlich erscheinen; die Wahrnehmung liegt hier, wie auch in der Realität, im Auge des Betrachtenden. Nachdem die ursprüngliche Veröffentlichung der Serie in Deutschland zunächst schleppend voranging und irgendwann ganz abbrach, ist es umso erfreulicher, dass seit 2007 eine vollständige und teilweise neu übersetzte Fassung herausgegeben wurde, so dass nun auch das deutschsprachige Publikum Zugang zu einem der Meisterwerke der Comicliteratur hat. |
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Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Zsolnay Verl., 2011. - 349 S. Nein, das ist keine Tiergeschichte, sondern die Geschichte einer Spurensuche. Der Untertitel heißt denn auch: „Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi.“ Ausgangspunkt für die Spurensuche ist ein Besuch des Autors – er ist Professor für Keramik an der Westminster University in London – bei seinem Großonkel in Tokio. „Nach dem Abendessen öffnete er die Schiebetür der langen Vitrine, die den größten Teil der Wohnzimmerwand einnahm, und nahm die Netsuke heraus, eins nach dem anderen. Den Hasen mit den Bernsteinaugen. Den Knaben mit dem Samuraischwert und Helm. Einen Tiger, ganz Schulter und Beine, der fauchend den Kopf wendet. Er gab mir eines, wir betrachteten es gemeinsam, und dann legte ich es behutsam zurück zu den Dutzenden anderer Tier- und Menschenfiguren auf den Glasborden.“ Die Ephrussi, ursprünglich aus Odessa kommend, gehörten zu den reichsten Familien im Paris und Wien der Jahrhundertwende. Sie bewohnten palastartige Häuser und verkehrten mit Proust, Renoir, Degas. Mit dem Heraufkommen des Nationalsozialismus verloren sie alles. Nur die Netsuke wurden von einem Dienstmädchen in der Schürzentasche gerettet… Edmund de Waal tastet sich vorsichtig an die Familiengeschichte heran und entfaltet gleichzeitig ein Panorama der neueren europäischen Geschichte. |
Renate Feyl: Die profanen Stunden des Glücks
Kiepenheurer und Witsch, 1996. - 389 S. Dieses Buch empfehle ich vor allem denjenigen, die auf die Exkursion nach Bönnigheim mitgehen. |
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Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind
Deuticke im Paul Zsolnay Verl. - Wien, 2006. - 225 S. Ein Roman nur aus E-Mails, die die beiden Protagonisten nach ersten fehlgeleiteten Mails nicht mehr loslassen. Faszinierend dabei die geschliffene Sprache, fern von sprachverhunzenden Kürzeln, wie sie sonst in Mails zu finden sind. Die manchmal im Minutentakt getauschten schriftlichen Äußerungen ergeben eine Sogwirkung, der sich Leo, ein Mittdreißiger mit einer gescheiterten Beziehung, und Emmi, die etwas zu oft erklärt, glücklich verheiratet zu sein, nicht entziehen können. „Gut gegen Nordwind“ ist Leo für Emmi, der dieser Wind den Schlaf raubt, doch sie treffen nie aufeinander, obwohl sie in derselben Stadt wohnen und nicht müde werden, ihre Zuneigung festzustellen. Das ruft natürlich nach einer Fortsetzung, die den Titel „Alle sieben Wellen“ trägt (Deuticke 2009. - 220 S.) und eine nicht minder anregende und vergnügliche Lektüre ist. |
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Herman Koch: Angerichtet
Kiepenheuer und Witsch, 2010. - 308 S. Es fängt alles ganz harmlos an. Treffen sich zwei Brüder mit ihren Frauen in einem Amsterdamer Sternerestaurant. Es könnte ein lockerer Abend werden für den Ich-Erzähler und frühpensionierten Geschichtslehrer Paul Lohmann und seinen Bruder Serge, einem bekannten Politiker mit Ambitionen auf das Ministerpräsidentenamt. Genüsslich beschreibt Herman Koch die eitlen Rituale, die übersichtlichen Teller und das Theater des Kellners beim Einschenken des Weines. Zum Apéritif empfiehlt der Oberkellner Champagner Rosé und griechische Oliven bekrönt mit Rosmarin, und hier beginnt der missgelaunte Paul Lohmann, die ganze Szenerie ins Lächerliche zu ziehen. Fast empfindet man mit dem Maître Mitleid, und man ahnt, dass noch Schlimmes folgen wird. Die beiden Brüder können sich nicht leiden, es herrscht schon immer Neid und Eifersucht zwischen ihnen. Bei Lammbries und Ziegenkäse unterhalten sie sich über ihren letzten Urlaub und andere Belanglosigkeiten. Nur langsam brechen Emotionen auf, und schwelende Konflikte zwischen den Brüdern entladen sich. Das eigentliche Thema des Treffens kommt allmählich zur Sprache: “Wir müssen über unsere Kinder reden“. Die Söhne der beiden Paare haben eine furchtbare Tat begangen. Die Eltern haben davon erfahren und überlegen, wie sie mit diesem Wissen umgehen sollen. Gemeinsam versuchen sie, das Verbrechen ihrer Kinder kleinzureden und zu entschuldigen. Wie weit geht Elternliebe? Mit starkem Beschützerinstinkt will Paul seinen Bruder davon abhalten, an die Öffentlichkeit zu gehen, und so beginnt ein dramatisches Hin-und Her in dem es um Selbstgerechtigkeit, Ehrlichkeit und Moral geht. Die Schwächen und das Versagen dieser vier Personen werden so schonungslos dargestellt, dass dem Leser bei den verschiedenen Menügängen der Atem stockt. Herman Koch hat einen aufwühlenden und hochspannenden Familien-Thriller geschrieben, der zugleich eine bissige Gesellschaftsanalyse ist. Das Geschehen hat der Autor in ein Sechs-Gänge-Menü verpackt, an dem man noch lange zu kauen hat und bei dem selbst der Digestif am Ende den Magen nicht beruhigen kann. Ingrid Kießling |
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Wolfgang Herrndorf: Tschick
Rowohlt, 2010. - 254 S. Der wohlstandsverwahrloste Mike, der in der Schule „Psycho“ genannt wird, weil er allzu offen von der Alkoholsucht seiner Mutter erzählt hat, und Tschick, hochbegabt, bettelarm und asozial, mit russischem „Migrationshintergrund“, fahren als 14-jährige zu Beginn der Ferien mit einem geklauten Lada gen Süden. Der Leser ahnt, wie unerreichbar das Ziel der beiden Kinder ist, staunt, wie sie der Polizei immer wieder ein Schnippchen schlagen und mit Chuzpe allerhand Abenteuer bestehen. Beeindruckend der Humor, mit dem die Geschichte erzählt wird, und der unaufdringliche Jugendjargon, den sogar feinsinnige Leserinnen ohne Empörung hinnehmen. Der Charme des Romans liegt darin, dass die beiden Protagonisten in den Tag hinein leben, ohne bereits den Zwängen der Alltäglichkeit unterworfen zu sein. Unwillkürlich ist man gefangen, denkt bei diesem Road-Movie an Markt Twain, ja an Eichendorff. Unvorstellbar, dass der 1965 geborene Autor diesen Roman schreiben konnte, obwohl 2010 bei ihm ein bösartiger Gehirntumor diagnostiziert wurde – ohne Aussicht auf Heilung. Der Roman wurde 2011 mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. |
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Charles Dickens: Große Erwartungen
Hanser Verl., 2011. - 826 S. Der Jubiläumstag eines großen Erzählers steht bevor: Am 7. Februar vor 200 Jahren wurde Charles Dickens geboren, den Kenner für den bedeutendsten englischen Schriftsteller nach Shakespeare halten. Viele haben sein Frühwerk „Oliver Twist“ gelesen, manche auch den autobiographisch geprägten Roman „David Copperfield“. Weniger bekannt sind die späten Romane, die heute von der Literaturkritik höher eingeschätzt und als Vorläufer der Moderne angesehen werden, auch wenn selbst sie nicht frei sind von viktorianischer Melodramatik. Dickens, der gern als Schauspieler auftrat, fesselt besonders durch seine einprägsame szenische Darstellung, die einige seiner Romane schon zu seinen Lebzeiten zu Bühnenerfolgen werden ließ und in späterer Zeit zu atmosphärisch dichten Filmen. Hans-Dieter Gelfert: Charles Dickens, der Unnachahmliche
Deutscher Taschenbuch Verl., 2011. - 375 S. Das Buch gibt eine knappe Einführung zu Gesellschaft und Politik in „Dickens’ England“, um dann das Leben des Autors nachzuzeichnen – das zur Schau gestellte wie das geheim gehaltene. Eingeblendet in den biographischen Ablauf sind Abriss und Kurzanalyse der jeweils neu erschienen Werke, so dass deren Ursprung in Lebenssituation und Gefühlswelt des Autors nachvollziehbar wird. Ebenso ist es aber möglich, sich unabhängig von der Biographie über einzelne Werke zu informieren (und so zu weiterer Lektüre anregen zu lassen). Eine Augenweide ist der Band dank einer reichhaltigen Auswahl von Bildern zu Dickens’ Leben und von Illustrationen, die seine Werke kongenial begleitet haben. |
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Der „arabische Frühling“, die „arabische Revolution“ u.a. sind mediale Schlagworte, die sich auf revolutionäre Vorgänge in despotisch regierten Staaten des nordafrikanischen Raums und des Nahen Ostens beziehen. Bereits drei Staatschefs wurden inzwischen mehr oder weniger unsanft eliminiert. Die weitere Entwicklung in anderen Staaten der Regionen, in denen die Gesellschaften ähnliche Antriebsimpulse spüren wie in Tunesien, Ägypten und Lybien, ist ungewiss, wenn auch aus unserer Sicht höchst spannend. 1. Jörg Armbruster: Der arabische Frühling
Westend Verl., 2011. - 238 S. Jörg Armbruster ist ein hervorragender kompetenter ARD-Korrespondent. Seine TV-Kommentare sind authentisch. Sein Buch ist dagegen inhaltlich zu dünn, da sich lediglich die bekannten Fernsehkommentare und –reportagen wiederholen. Es fehlen die zum Verständnis der Entwicklungsprozesse notwendigen Analysen. Dieses Buch kann ich nicht empfehlen. 2. Die arabische Revolution
Nordhausen, Frank und Schmid, Thomas (Hrsg.) Links Verl., 2011. - 215 S. In diesem Buch sind von zehn sehr kompetenten Autoren thematisch orientierte Aufsätze zusammengefasst. Die gesellschaftspolitischen Hintergründe wie auch die internationalen Einflussfaktoren werden sehr plausibel durchleuchtet. Auch die Perspektiven der Umwälzungen werden aufgezeigt. Lobenswert sind die gute Lesbarkeit und der differenzierte Blick der Beiträge. Dieses Buch kann ich allen Lesern empfehlen, die sich über die revolutionären Umwälzungen in den arabischen Ländern ausführlicher informieren möchten. Kurt Lange |
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Paula Mclain: Madame Hemingway
Aufbau-Verl., 2011. - 456 S. „Paris, ein Fest fürs Leben“ sind die unvollendeten Erinnerungen Ernest Hemingways. Genau diese Zeit beleuchtet Paula Mclain in ihrem Roman Madame Hemingway aus der Sicht seiner ersten Frau, die als „The Paris Wife“ bekannt wurde, welches auch der Originaltitel des Buches ist. Im Medienbestand sind außerdem die englische Ausgabe "The Paris Wife" sowie "Paris - ein Fest für's Leben" und die englische Originalausgabe "A moveable feast" von Ernest Hemingway. |
Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil
Hanser, 2011. - 185 S. „Der alte König in seinem Exil“ – genau so präzise, zärtlich und respektvoll wie der Titel ist das ganze Buch. Arno Geiger schreibt über die Alzheimer Erkrankung seines Vaters. Aber nicht nur. Er erzählt auch vom Leben des Vaters vor der Krankheit, von der bäuerlichen Familie, aus der er stammt, von der gescheiterten Ehe, von den Erfahrungen, die er als ganz junger Mann im Krieg, im Lazarett und auf dem Weg nach Hause machen musste. Erfahrungen, die zu seiner Devise geführt haben „daheim bleiben und nicht fortgehen“, was später ein bestimmendes Thema in seiner Krankheit sein wird. |
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Peter Watson: Der deutsche Genius
Bertelsmann, 2010. - 1022 S. Englisches Originaltaschenbuch: The German Genius. Simon & Schuster, 2010. – 964 S. Aufgeschlossenen Deutschen wird nachgesagt, dass sie ein Interesse daran hätten, wie die Deutschen aus der Sicht anderer Nationen gesehen werden. Das Buch von Peter Watson, einem offensichtlich umfassend gebildeten und belesenen englischen Zeitungsredakteur, kommt diesem Interesse entgegen. Es vermittelt überaus anregende Einblicke in die deutschsprachige Kultur- und Wissenschaftsgeschichte seit 1850. Dem Verfasser scheint es nötig, wie er in der Einleitung ausführt, in den englischsprachigen Ländern daran zu erinnern, wie führend Deutschland vor 1933 in Philosophie, Musik, Literatur, Kunst, Geistes- und Naturwissenschaften war. Denn in diesen Ländern sei das Bild Deutschlands noch immer vom Nationalsozialismus geprägt, sei es in England von der erfolgreich abgewehrten Bedrohung im Krieg oder in den USA vom Holocaust. |
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Christoph Meyer: Herbert Wehner
dtv, 2006 - 579 S. Diese Biografie eines für den Aufbau der demokratisch geprägten Bundesrepublik Deutschland maßgeblich und einflussreich verantwortlichen Politikers ist ein großartiges Dokument. Der Autor schildert ausführlich den politisch zwiespältigen Lebensablauf Wehners mit allen differierenden Elementen der politischen Machteinflüsse. Wehner war zwei Personen, was seinen politischen Werdegang betrifft, aber letztlich eine Person in der unermüdlichen Hilfe für Menschen, die unter politisch restriktiven Auswirkungen litten. Als beachtenswerte Leistungen hebt die Biografie hervor: Durchsetzung parlamentarischer Strukturen im Nachkriegsdeutschland, Umbau der sozialdemokratischen Partei in eine regierungsfähige Partei, Entspannung des Ost-West-Konflikts, praktische Hilfe für die Familienzusammenführung, Entspannung der Konflikte mit Polen und Israel. |
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Sadie Jones: Kleine Kriege
Schöffling & Co., 2010. - 444 S. Vielleicht kennen Sie von Sadie Jones das erste sehr lesenswerte Buch „Der Außenseiter“. Jetzt legt sie mit „Kleine Kriege“ erneut einen hervorragenden, tiefgründigen Roman vor. |
Vicki Baum: Menschen im Hotel
KiWi, 2005. - 317 S. "Was im großen Hotel erlebt wird, das sind keine runden, vollen abgeschlossenen Schicksale. Es sind nur Bruchstücke, Fetzen, Teile; hinter den Türen wohnen Menschen, gleichgültige oder merkwürdige, Menschen im Aufstieg, Menschen im Niedergang; Glückseligkeiten und Katastrophen wohnen Wand an Wand. Die Drehtür dreht sich, und was zwischen Ankunft und Abreise erlebt wird, das ist nichts Ganzes. Vielleicht gibt es überhaupt keine ganzen Schicksale auf der Welt…" Vicki Baum hat einen spannenden, leicht zu lesenden und doch tiefgründigen Roman geschrieben. Die Charaktere sind komplex: Baron von Gaigern zum Beispiel, der Hochstapler, Dieb und Fassadenkletterer, hat im Grunde ein weiches Herz und gibt zweimal das Diebesgut zurück, weil ihm die Bestohlenen hilflos erscheinen. Die Ballerina ist herrschsüchtig und todunglücklich. Der Unternehmer ein ekelhafter Chef und liebevoller Familienvater. Alle verändern sich durch die Begegnungen im Hotel. Diese Veränderungen zeigt die Autorin oft in kleinen, unbedeutenden Szenen: wenn z.B. der kranke Buchhalter Kringelein seinem Chef nicht den Vortritt beim Frisör lässt, dann ist das der erste Schritt in Richtung Emanzipation. Das Buch wurde 1932 mit Greta Garbo, Joan Crawford und Lionel Barrymore verfilmt. |
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Joachim Zelter: Der Ministerpräsident
Klöpfer & Meyer, 2010. - 188 S. Kurz vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg hat Ministerpräsident Claus Urspring einen Autounfall. Schnellstmöglich soll er wieder aufgepäppelt werden. Es ist nicht leicht, denn Urspring hat Teile seines Gedächtnisses verloren. Er weiß weder, wer seine Frau ist, noch dass er überhaupt verheiratet gewesen sein soll, was ein Ministerpräsident ist und welcher Partei er angehört... Nicht einmal sein schwäbischer Dialekt ist ihm geblieben, dafür kann er jetzt besser Englisch. Guter Rat ist teuer. Der Zeitpunkt des Unfalls ist denkbar schlecht, denn der Wahlkampf steht unmittelbar vor der Tür. Sein engster Mitarbeiter, Julius März, ist geschockt. Für ihn ist das Ganze eine Katastrophe, und so versucht er alles, um Urspring wieder für den Wahlkampf fit zu machen. Nicht nur die Gedächtnislücken sind ein Problem, nein auch eine andere Unfallfolge sind eines Ministerpräsidenten nicht würdig - er hinkt. Einen hinkenden Ministerpräsident darf es nicht geben; er muß staatsmänisch schreiten können, einen Gang der keine Zweifel aufkommen läßt - auf jeden Fall kein hinken. |
Maria Beig: Ein Lebensweg
Klöpfer & Meyer, 2009. - 164 S. Mit fast 60 Jahren hat Maria Beig 1982 ihr erstes Buch veröffentlicht. ,,Rabenkrächzen. Eine Chronik aus Oberschwaben" eroberte sofort PIatz 1 der SWR-Bestenliste und fand in den Zeitungen von Hamburg bis Zürich begeisterte Zustimmung. |
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Leonie Swann: Glennkill. Ein Schafskrimi und Garou. Ein Schaf-Thriller
Goldmann, 2005. - 375 S. und 2010. - 414 S. Die Schafe in Glennkill hatten an diesem Morgen ihren Schäfer tot aufgefunden, mit einem Spaten im Leib. Sie hatten ihren Schäfer gemocht (außer, wenn er sie zwang, die wöchentliche Calziumtablette zu schlucken). Er war ein guter Schäfer, bewachte sie, sorgte für Futter und las ihnen abends Liebesromane vor. Und er hatte versprochen, mit ihnen nach Europa zu gehen. Deshalb beschließen sie, herauszufinden, wer ihn getötet hat. |
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Sari Nusseibeh: Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina
Kunstmann, 2008. - 525 S. Wer sich für die politischen und gesellschaftlichen Spannungen im Nahen Osten interessiert, erhält mit dieser Lektüre authentische Erklärungen aus der Sicht eines an den hoffnungsfrohen Friedensbemühungen unmittelbar Beteiligten. Das Buch rangiert als Autobiografie des Verfassers, der einer jahrhundertealten intellektuell auftretenden palästinensischen Familie angehört - es ist die Rede von der Schlüsselgewalt über die Grabeskirche in Jerusalem. Das Buch liest sich aber wie ein Kriminalroman, dessen höchstdramatische Handlungsabläufe historische Vorgänge sind. Nusseibeh war in die politischen Prozesse der friedlichen Einigung zwischen Israelis und Palästinensern eingebunden. Sein Credo ist der Kampf für zwei gleichberechtigte Staaten. Zahlreiche diplomatische Anstrengungen, leider bis heute erfolglos, hat er dafür unternommen.
Kurt Lange |
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Pascale Hugues: Marthe und Mathilde. Eine Familie zwischen Frankreich und Deutschland
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2010. - 286 S. "Meine Großmütter hießen Marthe und Mathilde. Ihre Vornamen begannen mit den selben Buchstaben. Sie sind im selben Jahr, 1902, geboren. Mathilde am 20. Februar, Marthe am 20. September. Sie sind beide im Jahr 2001 gestorben. Mit ein paar Wochen Abstand, ganz am Anfang des neuen Jahrhunderts, kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag. So beginnt die Geschichte zweier Frauen, deren Biographien in einzigartiger Weise die Geschichte des Elsass widerspiegeln. Unterschiedlich allerdings waren ihre Herkunft und ihr Charakter. Mathilde war in Landau, also in Deutschland, geboren worden. Der Vater emigrierte ins Elsass, das seit 1871 zu Deutschland gehörte. Sie neigte zur Melancholie, während ihre elsässische Freundin Marthe eine Frohnatur war. Aber ihre Freundschaft hielt ein Leben lang, unabhängig auch von den politischen Gegebenheiten. Pascale Hugues, die als Journalistin in Berlin lebt, erzählt die Geschichte ihrer Großmütter, und damit die Geschichte einer deutsch-französischen Freundschaft einfühlsam und spannend. |
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Marie NDiaye: Drei starke Frauen
Suhrkamp, 2010. - 341 S. Der neue Roman von Marie NDiaye handelt zwar von drei starken Frauen, aber keineswegs sind es Frauen, die sich gegenüber ihren Männern oder ihren Familien egoistisch durchsetzen. Ihre Stärke besteht vielmehr darin, ihre Würde zu bewahren in einer fremden, feindlichen Umgebung. Drei Geschichten erzählen das Schicksal von drei unterschiedlichen Frauen und sind dabei nur ganz lose miteinander verbunden. Sie thematisieren auch die kulturellen Unterschiede zwischen Afrika und Europa, ein Thema, das Marie NDiaye, die einen senegalesischen Vater und eine französische Mutter hat, aber in Frankreich geboren wurde und immer in Frankreich gelebt hat, besonders betrifft.
Für diesen Roman hat Marie NDiaye im letzten Jahr in Frankreich den renommierten Literaturpreis, Prix Goncourt, bekommen. Renate Overbeck |
Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen