Empfehlungen Juni/Juli 2010
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Karibisches Flair, schöne Frauen und jede Menge SeeungeheuerCrichton, Michael: Gold - Pirate Latitudes. - Blessing, 2009. - 364 S. |
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Eine Annährung zweier SeelenverwandtenAlissa Walser: Am Anfang war die Nacht Musik. - Piper, 2009. - 252 S. Was sich von dem Tag an dem der kaiserlich-königliche Hofbeamte Paradis dem Wiener Wunderarzt seine Tochter erstmals vorführt, ereignet, erzählt Alissa Walser in ihrem Roman "Am Anfang war die Nacht Musik" auch als ein Experiment mit dem Stoff Sprache. Abwechselnd aus der Perspektive des Mediziners Mesmer und der Patientin deckt die Autorin die Annäherung zweier Seelenverwandter auf, die vor allem ein Handicap eint: Beide, der Magnetiseur wie das Mädchen, können sich der Welt kaum mehr mitteilen. So wie der Arzt von den wissenschaftlichen Größen seiner Zeit abgelehnt wird, weil er es nicht versteht, seine Heilmethode in die "Sprache der Vernunft" zu packen, ist die achtzehnjährige Resi immer mehr zum verstummten Objekt ihrer Eltern geworden, die trotz der Odyssee zu sämtlichen Ärzten Wiens pekuniär nicht schlecht von der Krankheit der Tochter profitieren. 11. Januar 2010 Wer weiß? Vielleicht hätten die Herren von der Wiener Akademie ganz anders über Franz Anton Mesmer gesprochen, wenn die Fallgeschichte des blinden Mädchens nur ähnlich erfolgreich verlaufen wäre wie die des unbekannten Bäckermeisters, der mit Mesmers Hilfe wieder sehen konnte. Andrea Däuwel-Bernd Der Titel ist auch als Hörbuch entleihbar. Ein Multitalent ist Alissa Walser. Sie wurde in Friedrichshafen als Tochter von Martin Walser geboren, studierte Malerei in Wien und New York. Heute lebt die Schriftstellerin, Malerin und Übersetzerin in Frankfurt. Mädchen und Frauen, ihre erfüllten und unerfüllten Träume und ihre Schicksale, bilden den Mittelpunkt ihre prosaischen Werke. Galerien stellen die Bilder der Bettina-von-Arnim-Preisträgerin aus. Mittwoch, den 30. Juni, 20 Uhr Die Autorin im Gespräch: Alissa Walser Gesprächspartner: Wolfgang Niess (SWR) In Zusammenarbeit mit dem SWR, der Kreissparkasse Reutlingen und der Osianderschen Buchhandlung |
(c) A. Buxhoeveden |
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Von Zündholzhunden, Regentropfenwettbewerben und der MenschenhölleOlmi, Veronique: Meeresrand. - Kunstmann, 2002. - 117 S. Die namenlose Mutter des fünfjährigen Kevin und seines neunjährigen Halbbruders Stan ist allein erziehend, bezieht Sozialhilfe und ist nicht krankenversichert. Mit ihrer Kapitalanlage von 152,35 Francs bricht sie mitten im Schuljahr mit ihren beiden Söhnen im Nachtbus zu einem kleinen Küstenort auf. Ihr Leben wird dominiert von Depressionen, Angstzuständen und Panikattacken, ihr Mund ist voller verfaulter Zähne und Zahnlücken, weswegen sie weder lacht noch ihren Kindern Lieder vorsingt. Dabei ist ihr einziges Bestreben, Stan und Kevin wie andere auch, eine gute Mutter zu sein. Es regnet ununterbrochen, als sie in dem braunen Hotel, das diesen Namen mitnichten verdient, spätabends ankommen: Die Bettbezüge haben Löcher, die Gemeinschaftsduschen sind verdreckt und voller Ungeziefer. Die erste Nacht im einzigen Bett ist ein unvorstellbares Geschenk für sie: traum- aber nicht schlaflos. Für gewöhnlich erlebt sie nur am Tag einen Schlaf ohne Erinnerung und Schmerzen und ohne den Absturz in die Träume. Diese vermischen sich mit ihrer Realität, und sie hatte noch nie die Kraft, einen ganzen Tag lang aufzusein. Die Erschöpfung und Müdigkeit trennt sie von der Welt, und manchmal wünscht sie sich einfach einen Beinbruch, um guten Gewissens im Bett bleiben zu können. Der Schlaf kann Vergessen oder Bedrohung bedeuten, und sie weiß nie, welche Seite auf sie wartet, oft ist er schlimmer als wach zu sein. Sie taucht oft ab in tiefe Löcher, wenn sie tagsüber ihre Angstattacken bekommt, und eine Erinnerung an früher gibt es für sie nicht. Ihr Speicher hat das Passwort für alle Erinnerungen gelöscht, und dunkel ahnt man, warum das so ist. Sie weiß, dass alles immer noch schlimmer kommen kann, der Regen führt Krieg gegen ihre Kinder, er ist Gift, Himmelsspucke, diese speicheligen, schleimigen Geschosse. In ihrer Welt gibt es Zündholzhunde mit einem fiesen Lachen, während die Kinder Regentropfenwettbewerbe veranstalten. Die Denkerei ist ein heimtückisches Ungeziefer, und am liebsten wäre sie ein Hund, der diesem Übel nicht ausgesetzt ist oder wie das Meer, das sich einfach selbst genügt und sich um nichts und niemanden kümmert. Gern wäre sie sogar eine Nutte, denn sie kann keinen wirklichen Unterschied zu den anderen Brutbäuchen erkennen, außer dass die Nutten wenigstens noch etwas dafür bezahlt bekommen. Gott stellt sie sich wie tausend stinkreiche Tattergreispäpste vor, und daher glaubt sie lieber nicht an ihn, wenngleich sie die Gebete der Mönche beruhigen und sie hofft, dass dabei auch eines für sie abfällt. Nur ganz selten taucht sie ein in die Hölle der Menschen, um einzukaufen oder auf's Sozialamt zu gehen. Kevin wird von Stan zur Vorschule gebracht, damit er nicht zu spät kommt, denn vor zehn Uhr schafft sie es nicht aus dem Bett, und er wartet abends oft stundenlang, bis seine Mutter ihn abholt. Stan beobachtet sie nur, selbst im Schlaf, er klagt nicht, hat nie Hunger oder Durst, muss nie zur Toilette, fällt nicht auf und liest ihr jedes Bedürfnis von den Augen ab. Er serviert ihr das Sonntagsfrühstück ans Bett, passt auf Kevin auf, zählt besorgt das Kleingeld in der Keksdose, trägt die Taschen für alle und nimmt sie an die Hand. Am liebsten sollten ihre Kinder auf den Händen laufen, damit sie keine teuren Schuhe mehr für sie kaufen müsste. Der eine läuft in zu kleinen, der andere in zu großen Kleidern durch die Welt, doch sie sieht sie morgens nie, weder ihre Kleider noch Stans vom Kissen zerknautschtes Gesicht nach dem Aufwachen. Gegen Kevins ständigen Hunger gibt es Kekse. Es ist die erste und die letzte Reise, die sie mit ihren Kindern unternimmt, und sie sorgt dafür, dass sie einen unvergesslichen letzten Tag erleben, sie zeigt ihnen mitten im Winter das Meer, das sich jedoch nicht von seiner Schokoladenseite zeigt, im Dauerregen ist es nicht blau, und dafür schlägt Stan seine Mutter zu ersten Mal im Leben. Sie verwöhnt ihre Kinder "nach Strich und Faden" mit heißer Schokolade, Keksen, Pommes Frites, Cola und einem Jahrmarktbesuch, auf dem sie ihr letztes Geld verprassen dürfen. Tragisch, dass die beiden im Leben untrennbaren Kinderseelen, die sie in eine "bessere Welt" geleitet hat, sich am Ende im Tod verloren haben - jeder ist alleine in eine andere Richtung gegangen. In jedem Satz von Olmi scheinen Sehnsüchte, Resignation und Traurigkeit durch, die mir bis ins Mark gehen. Die bedrückende Lebenswirklichkeit nüchtern, unsentimental aus Sicht der mit ihren Krankheiten, den Kindern und dem Leben überforderten Mutter beschreibend schafft Olmi es von der ersten bis zu letzten Seite, sich in meine Seele einzugraben und mir mit ihrem Blick auf die Welt fast das Herz zu brechen. Tanja Schleyerbach |
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Der gute Dieb betreut einen ausgewählten KundenstammMatthew Dicks: Der gute Dieb. - Blanvalet, 2009. - 377 S. ...dann war vielleicht Martin am Werk. Er ist die Hauptperson in "Der gute Dieb" von Matthew Dicks und er ist kein Einmaldieb, sondern betreut einen ausgewählten Kundenstamm. Dort "erwirbt" er regelmäßig Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs. Doch ihm unterläuft ein Fehler, auf einer seiner Diebestouren wird er fast erwischt, und dadurch beginnt er, sich in das Privatleben anderer Menschen einzumischen. Dabei lernt er die Frau seines Lebens kennen. Doch wie soll er ihr seinen Job erklären? Martin ist ein Meister in seinem Fach und ein wahres Organisationswunder, ein Pedant und ein zutiefst zwanghafter Mensch. Wie er seinen Lebensunterhalt bestreitet und wie er seinen außergewöhnlichen Berufsalltag bewältigt, wird mit Liebe zum Detail und so viel hintergründigem Humor beschrieben, dass es ein gefundenes Fressen ist für alle Leser, die sich auf die Macken einer total durchgeknallten und doch sehr sympathischen Romanfigur einlassen wollen. Handlung: eigentlich egal, denn seinen Witz bezieht das Buch vor allem aus der Skurrilität seiner Hauptperson und aus ihren absurden Handlungsweisen, die von dem Autor bis ins Feinste ausgedacht wurden. Manchmal läuft einem ein Buch zufällig über den Weg, das ganz unscheinbar und alltäglich daherkommt, das man aber mit Vergnügen lesen muss. Der gute Dieb von Matthew Dicks ist so eines: schöne Unterhaltung mit einer erfrischenden Idee dahinter! Andrea Däuwel-Bernd |
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Überzeugend-intensive Geschichte eines Widerstandes im NahostkonfliktLemon tree. - Regie: Eran Riklis. - 2009. - 1 DVD, ca. 101 Min. Entgegen der arabischen Tradition fühlt sich Salma stark zu dem jungen Ziad hingezogen, und die Gefühle entwickeln sich sehr behutsam auf Gegenseitigkeit, wobei die Zweifel des Anwalts an einer Beziehung zu der älteren, aber wunderschönen Frau unausgesprochen spürbar sind. Salma hingegen wird von der männlichen Verwandtschaft ihres verstorbenen Mannes deswegen diffamiert und ausgegrenzt. Zwischen den beiden Frauen, Salma und Mira, die sich nie persönlich begegnen, entwickelt sich ein unsichtbares Band der Sympathie. Mira hat den Wunsch, Salma eine bessere Nachbarin zu sein. Nachdenklich stellt sie sich auch öffentlich auf Salmas Seite, widerruft aber auf Druck ihres nicht gänzlich unsympathischen Mannes ihre Äußerungen. Dennoch entfremdet der sich ihr zunehmend nicht zuletzt durch seine starre Haltung in der Plantagenfrage, und eines Tages geht sie gelassen ihren eigenen Weg. Der Film kommt mit ruhigen Bildern und ohne Sentimentalitäten aus, er verzichtet auf Hass und Gut-Böse-Denken, und die Realitäten des Nahostkonfliktes werden an dieser Geschichte überzeugend geschildert. Die arabischstämmige israelische Hauptdarstellerin Hiam Abas verkörpert Salma mit einer Intensität, die zusammen mit ihren Kollegen vollkommen ungekünstelt zu fesseln vermag und ein wohltuendes Kontrastprogramm zu einer amerikanisch-aufgetakelten Schauspielerriege darstellt. Tanja Schleyerbach |