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Behinderung als Projektion der Umwelt
Droste, Liane von: Neele ist da geblieben. Portraits und Reportagen. - edition steinlach, 2010. - 219 S. "Behindert? Sind oft die anderen. Wir alle. Wir nehmen wahr, was fehlt. Blicken entsetzt auf Beine, Arme oder Augen, die ihren Dienst versagen; schließen von der durch spastische Verkrampfungen des Sprechers verfremdeten Stimme auf geistige Fähigkeiten. Wir sind verblüfft, wenn jemand, der mit einer frühkindlichen Hirnschädigung lebt, eigenständig seinen Weg gehen möchte." Die Tübinger Journalistin und Wissenschaftlerin Liane von Droste hat Menschen aus der Region Reutlingen und Tübingen portraitiert, ihr Leben, ihren Alltag, ihre Sorgen und Nöte und ihre Träume. Gemeinsam ist diesen Menschen das, was die Allgemeinheit "Behinderung" nennt, was eine Einschränkung der Beweglichkeit, des Empfindens oder der Wahrnehmung sein kann. Behindert sind die Menschen in Liane von Drostes Buchs vor allem aber auch durch die Wahrnehmung und Projektion ihrer Umwelt. Denn im Grunde sind sie nicht anders als die "Normalen" in ihren Bemühungen um eine selbstverantwortliche Lebensgestaltung, in ihren Wünschen, Hoffnungen und in ihren Wesensarten. Spannend und berührend sind die Portraits in diesem Buch. Für alle, die gerne Lebens- und Erlebnisberichte lesen. Andrea Däuwel-Bernd Autorenlesung im Rahmen von Kultur am Rande am Donnerstag, 7. April, 20 Uhr |
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Unbekümmerte Spielfreude und Improvisation crossover the genres
Quatuor Ebene: Fiction. - EMI, 2010. - 1 CD, ca. 79 Min.
Crossover at it's best - auf der neuen Platte des jungen, preisgekrönten und hochgelobten französischen Streichquartettes Quatuor Ebene wird geswingt, gerockt, improvisiert und gesungen. Und das von einem Ensemble, das vor allem durch Einspielungen mit Werken von Haydn, Brahms oder Bartok für Furore sorgte. In ihrem neuen Album "Fiction" legen sie zum ersten Mal ein Crossover-Album vor. Und es ist wirklich erstaunlich, wie mühelos und leicht diesen Künstlern der Spagat zwischen E- und U-Musik gelingt. So finden sich auf dieser CD neben Jazzstandards auch Klassiker aus der Popmusik ("Come together" von den Beatles) und Stücke aus der Filmmusik wie der fulminante Opener "Misirlou" aus dem Film "Pulp fiction" wieder. Dabei werden die vier Musiker durch den Schlagzeuger Richard Héry und Sängerinnen wie Stacey Kent oder Fanny Ardant kongenial unterstützt. Was diese Platte so einzigartig macht, ist, mit welcher Spielfreude diese Musiker improvisieren und Neues ausprobieren. Da wird aus einem Streichquartett eben mal ein Vokalensemble. Faszinierend auch, mit welcher Unbekümmertheit sich diese klassisch ausgebildeten Musiker zwischen den Genres bewegen. Aber sie können es wirklich! Gut gefallen hat mir auch, dass bei dieser CD weit gehend auf elektronische Instrumente verzichtet wurde und die Musik eine Leichtigkeit hat, die bei manch anderen Crossover Künstlern gänzlich fehlt. Eine rundum gelungene und spannende CD-Einspielung. Und wer mehr hören will: in der Musikbibliothek können auch die CDs mit Werken von Brahms, Haydn, Ravel, Debussy und Fauré entliehen werden. Barbara Münz |
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Generation Praktikum - von der Köchin zur Märchentante
Köhler, Anne: Nichts werden macht auch viel Arbeit. Mein Leben in Nebenjobs. - Dumont, 2010. - 143 S.
Eine junge Frau, Studentin der Kulturwissenschaften, versucht sich mit diversen Jobs über Wasser zu halten. In 21 Episoden erzählt sie im Kolumnenstil witzig und kurzweilig von ihren Abenteuern in Nebenjobs. Sie versucht sich unter anderem als Köchin, Messehostess, Märchentante und Postsortiererin. Der Leser erhält Einblicke in ihr abwechslungsreiches Berufsleben und seine Auswirkungen auf ihre private Situation. Schließlich findet sie ihren Traumjob - das Schreiben - allerdings kann sie davon nicht leben. Ein unterhaltsames Buch zum Schmunzeln. Die Generation Praktikum wird ihre eigenen Erfahrungen wiederfinden. Maria Weber |
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Detailreiches und bildhaftes Renaissanceportrait
Mantel, Hilary: Wölfe. - DuMont, 2010. - 770 S. "Echte" historische Romane sind selten. Sie geben einen Einblick in Zeitumstände vergangener Epochen, in die Gesellschaft und in Entwicklungsstadien, die zum Teil noch für die Gegenwart bedeutsam sind. Das Buch "Wölfe" von der Engländerin Hilary Mantel, für den sie den Man Booker Prize bekommen hat, ist so ein Roman, der eine Umbruchszeit der englischen Geschichte vielfältig differenziert darstellt. Es geht um den englischen Lordkanzler Thomas Cromwell, der nach dem Tod des Kardinals Wolsey unter Heinrich VIII. zur Macht gelangt. Im Streit um Heinrichs Scheidung von Katharina von Aragon, um seine Heirat mit Anne Boleyn und im Machtkampf mit Thomas Moore gewinnt Cromwell an Einfluss. Es geht um die Anfänge der Reformation, um den Glaubensstreit, hinter dem auch Machtpolitik um die Vorherrschaft in Europa steht und um die Intrigen der mächtigen Familien im Königshaus Tudor. Ihre Hauptperson Cromwell ist ein komplexer Charakter: skrupellos, rücksichtslos aber als Staatsmann visionär und ein liebevoller Familienvater und loyaler Freund. Fast 800 Seiten detailreiche und bildhafte Renaissance, als wäre sie von Hans Holbein gemalt (der übrigens im Roman auch vorkommt) und prägnante Dialogszenen. Und wer davon nicht genug kriegen kann, dem sei der Roman "Bildnis einer jungen Frau" von Vanora Bennett empfohlen, der den Haushalt von Thomas Moore in den Mittelpunkt stellt. Andrea Däuwel-Bernd |
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Ein Kriegsschauplatz der anderen Art
The war zone. - Regie: Tim Roth. - 2010. - 1 DVD, 95 Min.
In diesem Film wird kein Licht benötigt. Wozu auch? Es ist ein Kriegsschauplatz der anderen Art, der unter die Haut und in jede Zelle kriecht, nicht weniger grauenvoll als die "echten". Dabei scheint alles so normal, bisweilen fast heiter-unbeschwert in dieser Familienidylle zu sein. Anders als in Familien, in denen sich die Brüche und die Gewalt auf den ersten Blick offenbaren. Die Familie ist von London auf's Land gezogen, die Mutter erwartet das dritte gemeinsame Kind, der Vater freut sich auf den Nachwuchs, und er ist kein klassisches Ekelpaket, im Gegenteil. Er tut im Verborgenen mit seiner achtzehnjährigen Tochter, was in Familien öfters passiert, als man es sich vorstellen kann. Die Mutter ist in diesem Fall tatsächlich vollkommen ahnungslos, auch wenn man es nicht glauben mag. Jessie lässt alles duldsam über sich ergehen, hält still und leidet. Tom, der fünfzehnjährige Sohn der Familie, ist der Aufdecker und Aufrührer, er ist der Zeuge, Filmer und Befreier von Jessies unsäglichen und nie wiedergutzumachenden oder gar zu vergessenden Qualen. Der Vater bekämpft ihn so lange, bis es nichts mehr zu leugnen gibt. Am Ende ist die Familie auch nach außen hin zerbrochen, und es scheint eine Erlösung zu sein. Tim Roth erspart uns keine Details dieses Inzestdramas, die Dialoge sind minimalistisch, er lässt Bilder sprechen. Dass die Literaturverfilmung und das Regiedebüt auch deswegen so gelungen ist, weil Roth dies alles selbst erlebt hat, ist nicht selbstverständlich. Die Geschwister, beide ebenfalls Debütanten, meistern ihre Rollen brillant. Lange noch begleiten mich ihre Blicke und Gesten. Tanja Schleyerbach |
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Zeugnis und Mahnung gegen das Vergessen
Erlöse uns von dem Bösen. - Regie: Amy Berg. - 2006. - 1 DVD, 99 Min.
Ganz anders, doch nicht weniger verstörend nimmt sich die mehrfach ausgezeichnete und für den Oscar nominierte Dokumentation Amy Bergs des Themas an. Es ist der Kindesmissbrauch durch Priester der Katholischen Kirche in den USA. Sie zeichnet ein Portrait des Priesters Oliver O'Grady, der mehrere hundert Kinder in Nordkalifornien für seine sexuellen Bedürfnisse missbrauchte. Der Täter kommt ausführlich zu Wort, unfassbar, dass er - selbst Missbrauchsopfer - nicht zu realisieren scheint, was er den Mädchen und Jungen antut. Bis zum Ende des Films wartet man vergeblich auf Einsicht. Sein Versuch, am Ende alle zu sich nach Hause einzuladen, um sich zu scharen, mutet pervers und schizophren an. Auch die Missbrauchten, längst erwachsen und schwer gezeichnet, zeigen ihre Wunden, Verletzungen und Qualen. Ihre Eltern haben sie gutgläubig dem Priester anvertraut - und deren Wut ob des missbrauchten Vertrauens und ihre Schuldgefühle sind unermesslich. Zudem widmet sich der Film Vertretern der Katholischen Kirche, Vorgesetzten O'Gradys, die seit 1973 von diesen Vorfällen wussten - und schwiegen. O'Grady wurde versetzt von Gemeinde zu Gemeinde und erhielt immer neue Gelegenheiten, sich an Kindern zu vergehen. Die Ignoranz und Amnesie O'Gradys und der so genannten Seelsorger in den Gerichtsprozessen macht wütend. Ein schmerzhaftes, dunkles und verlogenes Kapitel in der Geschichte der Katholischen Kirche harrt noch mancher Einsicht und Aufarbeitung. Dieser Film ist Zeugnis und Mahnung gegen das Vergessen. Tanja Schleyerbach |
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