Empfehlungen Februar/März 2011
"Literatur im Gespräch" ist eine Veranstaltungsreihe der Volkshochschule Reutlingen und der Stadtbibliothek Reutlingen.
Veranstaltungsort: Stadtbibliothek Reutlingen, Spendhausstraße 2, 72764 Reutlingen, Großes Studio
Eintritt: 6,00 €; ermäßigt 4,00 €
Kartenvorverkauf und -reservierung: Musikbibliothek, Telefon 07121 303-2847
Von den Enden der Liebe, der Illusionen und des LebensWillemsen, Roger: Die Enden der Welt. - Fischer, 2010. - 541 S.Auf fünf Erdteilen war Roger Willemsen in den letzten Jahrzehnten unterwegs, um seine ganz persönlichen Enden der Welt zu finden. Immer geht es in diesen literarischen Reisebildern auch um ein Enden im anderen Sinn: um ein Ende der Liebe und des Begehrens, der Illusionen, der Ordnung und Verständigung. Um das Ende des Lebens - und um den Neubeginn. "Die Enden der Welt" ist kein konventionelles Reisetagebuch. Zwar erfährt man viel über das Lebensgefühl an fremden Orten, aber im Mittelpunkt stehen die Geschichten und Menschen, von denen Roger Willemsen erzählt. Es ist kein schnell zu lesendes Buch mit seinem anspruchsvollen und wortreichen Stil, aber ein Gewinn für alle, die sich auf solche Grenzerfahrungen einlassen wollen. Andrea Däuwel-Bernd Roger Willemsen veröffentlichte sein erstes Buch 1984 und arbeitete danach als Dozent, Herausgeber, Übersetzer, Essayist, Korrespondent und Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt u. a. den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold. Autorenlesung am Donnerstag, 3. Februar, 20 Uhr Der Titel ist auch als Hörbuch entleihbar. |
(c) Anita Affentranger |
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Unterhaltsame Reise nach Vendig mit einem Schopenhauer voller SinnesfreudePoschenrieder, Christoph: Die Welt ist im Kopf. - Diogenes, 2010. - 341 S. Schopenhauer ist den meisten bekannt als der alte Philosoph mit wallender Mähne, frauenverachtend und zynisch. Christoph Poschenrieder hat ihn als jungen Mann skizziert, der hinter Arroganz Unsicherheit verbirgt. Als sich die Veröffentlichung seines Buches verspätet, bricht Schopenhauer erbost zu einer Italienreise auf und landet in Venedig. Die Reise wird in seiner Weltsicht einiges verändern. Der Roman ist keine schwerverdauliche Auseinandersetzung mit Schopenhauers Philosophie, sondern eine unterhaltsame Reise durch die Zeit der Metternich'schen Restauration nach den Napoleonischen Kriegen, in der ein junger Mann seinen Weg im Leben sucht. Voller Sinnesfreude geht es um die Liebe, ums Gondelfahren, um Lord Byron und um Venedig. Andrea Däuwel-Bernd Christoph Poschenrieder, 1964 bei Boston geboren, studierte Philosophie und besuchte die Journalistenschule an der Columbia University in New York. Er arbeitet als Journalist und Autor von Dokumentarfilmen. Sein Debüt ist eine lustvolle Reise durch Philosophie und Phantasie, voller Witz und Spielerei. Autorenlesung am Donnerstag, 10. Februar, 20 Uhr |
(c) Daniela Agostini |
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Tiefsinniger und humorvoller Blick auf das Zeitgefühl in 27 BetrachtungenHaller, Christian: Die Stecknadeln des Herrn Nabokov. - Luchterhand Literaturverlag, 2010. - 153 S.Das Leben mit neuen Augen sehen will Christian Haller in "Die Stecknadeln des Herrn Nabokov". Tempo, Geschwindigkeit, Rastlosigkeit lassen uns zunehmend blind werden für das, was eigentlich zählt im Leben. Was geschieht, wenn jemand Zeit ganz anders wahrnimmt? Zeit erlaubt sich umzusehen und sich, wie der große Vladimir Nabokov, der auf die Jagd nach Schmetterlingen ging, mit dem vermeintlich Nutzlosen zu beschäftigen. Mit 27 kurzen Beiträgen ist er der Zeit, die nur scheinbar nicht mehr ausreichend vorhanden ist, auf der Spur. Er stellt Vergleiche an zu früher, als Zeit noch anders wahrgenommen wurde und die Menschen nicht so viele Möglichkeiten hatten, sich die Zeit zu vertreiben und er schildert aktuelle Beobachtungen aus seinem Bekanntenkreis, wo es ständig heißt "keine Zeit, keine Zeit". Was bewegt Menschen dazu, sich im Dickicht ihrer Termine zu verlaufen und darüber zu vergessen, dass die Stimme eines Vogels, eine Flusslandschaft oder ein gutes Gespräch so manche hektische Betriebsamkeit aufwiegen? Zumal trotz Mechanisierung, Automatisierung und letztendlich Computerisierung der Mensch doch immer der gleiche geblieben ist. Ein tiefsinniger und humorvoller Blick auf unser Zeitgefühl ist dem Autor gelungen. Nehmen Sie sich die Zeit für diese Essays und Betrachtungen. Andrea Däuwel-Bernd Christian Haller wurde 1943 in Brugg, Aargau geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb-Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er zählt zu den produktivsten Schriftstellern der deutschsprachigen Schweiz. Autorenlesung am Donnerstag, 17. Februar, 20 Uhr |
(c) Alex Spichale |
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Briefwechsel aus dem Wahnsinn des Zweiten WeltkriegesMeine Seele sucht Dich! Liebesbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg zwischen Heimat und Ostfront. - Hrsg. von Gabriele Zander. - Aquensis Verlag, 2010. - 296 S.Gabriele Zander hat etwa 200 Briefe ihrer Eltern veröffentlicht. Geschrieben wurden diese Zeitdokumente zwischen August 1944 und März 1945. Zwischen Alois und Clara lagen nicht nur Tausende von Kilometern, sondern der Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges. Alois, der Vater, verbrachte diese Zeit als Soldat an der Ostfront. Und Clara, der Mutter, rückte der Krieg vom Westen her, von Frankreich aus, näher. Tiefflieger und Bomben der Alliierten bedrohten die Bevölkerung am Oberrhein, wo sie lebte. Nur etwa acht Monate dieses Briefwechsels sind erhalten geblieben, aber aus diesem Fragment kann man die Intensität der Beziehung und die innere und äußere Wirklichkeit der beiden Schreibenden erahnen. Sie teilten sich ihre Neuigkeiten, ihre Träume und Hoffnungen mit, das Schicksal von Eltern, Geschwistern und Kindern, wie es Millionen damals erlebten und erlitten, den Tod als ständigen Begleiter. Wer die Menschen aus dieser Zeit verstehen will und Sinn für Regionalgeschichte hat, dem wird dieses Buch gefallen. Andrea Däuwel-Bernd Autorenlesung am Mittwoch, 23. Februar, 20 Uhr |
(c) Schauplatz Verlag & Werbeagentur |
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Vom Hungerengel und der großen, leeren Nacht mit den LäusenMüller, Herta: Atemschaukel. - Hanser, 2009. - 299 S. Herta Müllers Roman "Atemschaukel" basiert auf den Erlebnissen ihres Freundes, des Lyrikers Oskar Pastior (1927-2006), der sie in unzähligen Gesprächen an seinen Erinnerungen teilhaben ließ. "Ohne Oskar Pastiors Details aus seinem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt", erklärt Herta Müller in einem Interview. In einer atemberaubend präzisen, poetischen Sprache nähert sich die Autorin der grausamen Wirklichkeit des Erlebten und berührt ihre Leser/innen unmittelbar. Mehr kann große Literatur nicht leisten. 2009 wurde die 1953 im rumänischen Banat geborene Schriftstellerin mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Dorothea Werner Der Titel ist auch als eBook, als Lesung und als Hörspiel entleihbar. |
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Zielsicher eingefangene Stimmungen, Seelenschmerzen und GesellschaftsfragenMey, Reinhard: Mairegen. - EMI, 2010. - 1 CD Schon das erste Lied packt mich sofort, „Antje“, die kluge und weise Imbissbudenbesitzerin mit ihrem kirschroten Mund und dem Herz aus Gold, die nun mal an ihrem kleinen, grauen Ort hängt, die anschreibt für alle Beladenen und heimlichen Trinker und Dichter, die deine Tränen sieht und dein Geheimnis gut hütet. "Sie kennt deinen Kummer, sie weiß, wie das ist, wenn du fertig mit der Welt und ganz am Boden bist, dann hat sie für dich ein Überlebenselixier, eine Mahlzeit, eine Schulter und ein Quartier." „Gegen den Wind“: "Und nur ein Weg führt aus dem Teufelskreise... Gegen den Strom, gegen den Wind, gegen den Geist der Zeit, gegen die Dummheit, mein Kind. Nur ein Querdenker, ein Freigeist findet aus dem Labyrinth... Nur Menschen, die funktionieren, kann man verbiegen und verdreh'n, kriegt man zum im Gleichschritt marschieren und blind in den Abgrund geh'n. Und wenn sich alle arrangieren, ohne Widerspruch und stumm, mitlaufen und parieren, dann steh du auf und dreh' dich um!" „Gute Seele“: Eine Hommage an alle, die unvergessen taten, was sie nicht mussten: "Der Dicke war's, der mich annahm, als ich neu in die Klasse kam. Der, mit dem keiner spielen mag, ist ein guter Freund für den ersten Tag. Bin ein Leben lang rumgestreunt mit dieser Dankesschuld in mir" für den Bullen, die Lehrerin, den Amtmann, das verliebte Nachbarsmädchen und den Unbekannten. „Ficus Benjamini“: Das räudige Gewächs beim Radiologen, das strahlungsresistent alle Schattenseiten kennt, als Einziges auch harte Diagnosen verträgt und weiß, es kommt nie wieder lebend hier heraus. "Er kennt ihn, den Geruch der Angst, der an den Wänden klebt, er kennt das Schwert des Damokles, das über allem schwebt. Er kennt die Qual der Ungewissheit und kennt die Befunde, vielleicht kennt er auch schon den Tag, vielleicht sogar die Stunde." „Drachenblut“: Zu Beginn will er Maximilian noch ins Leben zurücklieben und weiß am Ende, dass er ihn gehen lassen muss. "Ein Lidschlag nur, ein Augen-Blick, ein Zeichen ist geblieben und die Entschlossenheit, dich in die Welt zurückzulieben. Hast du auf deiner Reise so viel Kümmernis geseh'n? Erschöpft von so viel Schmerzen, ruh' dich aus, lass es gescheh'n. Ich bleibe bei Dir, ich setze mich an deiner Seite nieder. Ich habe dich so lang vermisst, jetzt habe ich dich wieder... Gierig zu seh'n, in welches Meer der Strom mündet, hast du dein Licht an beiden Seiten angezündet. Nun ringt es flackernd um seinen Schein, mein fernes, mein geliebtes Kind, schlaf ein." „Mairegen“: "Denn im Leben kommt es manchmal knüppeldick, und du glaubst, du hast die Wahl nur zwischen Kugel und Strick. Wenn das letzte Fünkchen Hoffnung dich verlässt, hältst du dich an einem kleinen Kinderreim fest... Ich hab' bei Tisch immer gerade gesessen, hab brav meinen Teller leer gegessen, damit für alle die Sonne scheint. Nun weiß ich nicht, was ich mit so viel Sonne soll, so viel blauen Himmel brauch' ich nicht. Ach wär' doch nur mein Teller wieder voll und der Regen fiele auf mein Gesicht." „Larissa“: "Dafür lässt sie alle Sprüche über sich ergeh'n, erträgt die Demütigungen, nur um hier oben zu steh'n im Studio vor der menschlichen Klatschkulisse, die sich Häme wünscht, Lästern, Spott und Verrisse... Sie war der Superstar, beneidet und hofiert, und heute Abend demoliert und aussortiert. Eine Verliererin, eine Welt bricht zusammen, eine Kinderseele übersät von Schrammen. Und mit dem nächsten Werbeblock endet hier Larissas Traum – und ihre Zukunft liegt hinter ihr. Deutschland macht sich lustig, Deutschland lacht sich schlapp, Deutschland jubelt hoch, und Deutschland kanzelt ab, Deutschland spielt die Richter des Kindergerichts, Deutschland tut sonst nichts." Das „Butterbrot“lied: "Unvergessen ist das Tellerchen, das ich meiner Mutter bereitet hab, das dem Tellerchen so ähnlich war, das sie als Kind mir gab: Brot zu Würfeln klein geschnitten ohne Rinde, das, wie's scheint, alle Kinder kriegen, wenn's das Leben gut mit ihnen meint... Was war das für ein steinaltes und zugleich köstliches Brot, das man Mutter auf dem Schwarzmarkt für die alte „Leica“ bot." „Es gibt kein hartes Brot, es gibt nur kein Brot, und das ist hart.“ Musikalisch bewegt sich Mey in eher überraschungsfreien Zonen, Melodien und Harmonien scheinen nicht unbekannt, doch in Kombination mit seinen Texten, zielsicher Stimmungen beobachtend und einfangend, die immer wieder den Zahn der Zeit und Seelenschmerzen punktgenau treffen und den Finger furchtlos in die Wunden der Gesellschaft legen, vorgetragen von dieser unverwechselbaren Stimme, graben sich die Lieder in mein Herz. Schon nach wenigen Durchgängen bleiben sie in der Erinnerungsschleife hängen und blitzen immer wieder im Alltag durch. Das neue Album ist wie nicht anders zu erwarten nachdenklich-versonnen-melancholisch, rückblickend-altersweise, auch trotzig und immer wieder anrührend sentimental. Ich vermisse die Unbeschwertheit, das Rotzige und die unbefangene Frische früherer Songs. Doch es ist keine Mogelpackung, vielmehr ein typisches Mey-Album mit einer Authenzität und Verletzlichkeit, wie sie kein anderer zum Ausdruck bringen vermag. Mir drängt sich der Verdacht auf, dass sich dieser hochsensible Mann mit seinen Liedern und Konzerten eine beträchtliche Anzahl an Therapiestunden beim Psychiater erspart hat. Reinhard Mey mag vielleicht noch keine Felsen zum Weinen gebracht haben mit seinem Gesang – Menschen gleichwohl. Tanja Schleyerbach |
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"Nehmen Sie ein gutes Buch mit ins Bett - Bücher schnarchen nicht!"
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Die Inszenierung des Scheins, das Funktionieren und Scheitern von RollenJoachim Zelter: Der Ministerpräsident. - Klöpfer & Meyer, 2010. - 188 S. Der Tübinger Schriftsteller Joachim Zelter zeigt die Inszenierung des Scheins, das Funktionieren und Scheitern von Rollen, die nicht nur für Politiker gelten. Entstanden ist dabei ein gleichermaßen witzig-komischer wie nachdenklich stimmender Roman, der es im letzten Jahr auf die Longlist des deutschen Buchpreises geschafft hat. Andrea Däuwel-Bernd Autorenlesung am Dienstag, 15. März, 20 Uhr |