Empfehlungen Februar/März 2012
Von den Widrigkeiten des Reisens und Unterwegsseins
Schon lange hat man keine neuen Romane oder Erzählungen mehr von den Reutlinger Autoren lesen können. Umso schöner ist es, dass nun von dem Reutlinger Autor Volker Jehle ein kleiner Band erschienen ist, in dem er seine Reisegeschichten versammelt hat. Sri Lanka, französische Atlantikküste, Polen, Prag und Australien sind die Schauplätze. Und immer erzählen sie in ganz unverwechselbarem Ton von den kleinen Beobachtungen und Begebenheiten. Volker Jehle hat einen guten Blick auf die kleinen Dinge, und mit sanfter Ironie kann er die Widrigkeiten des Reisens und Unterwegsseins zu einem kleinen Lesegenuss machen. Seine Beschreibungen und Dialoge sind reduziert und prägnant, seine Beobachtungen von Tieren und Menschen genau formuliert. Man kann sich und seine eigenen Unbehaglichkeiten beim Reisen wiedererkennen in diesen Geschichten. Ein Buch für das Handgepäck, an dem man Freude haben kann, nicht zuletzt auch durch die Holzschnitte des Künstlers Michael Wendel, der den Erzählband illustriert hat. Volker Jehle, geboren 1954, lebte lange Jahre in Reutlingen, inzwischen in Geislingen bei Balingen. Er promovierte 1990 bei Walter Jens. 1982 gründete er das Hildesheimer-Archiv. Er schreibt Erzählungen, Romane, Hörspiele und Drehbücher. Sein Roman „Ulrike“ wurde unter dem Titel „Komm wir träumen“ für das Kino verfilmt. Andrea Däuwel-Bernd Autorenlesung am Freitag, 17. Februar 2012, 20 Uhr im Erdgeschoss der Stadtbibliothek Reutlingen |
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Der (Über-)Lebenswille eines starken Teenagers
Klüssendorf, Angelika: Das Mädchen. - Kiepenheuer & Witsch, 2011. - 182 S. Er beginnt mit äußerst drastischen Bildern, dieser Roman über ein Mädchen, das in fast asozialen Verhältnissen aufwächst. Und gleich zu Anfang ist man als Leser fast abgestoßen von diesem Buch und wird doch auf den nächsten Seiten ganz schnell hineingezogen in den Werdegang der Hauptperson. Der Vater trinkt und taucht nur sporadisch auf, die Mutter ist mit der Erziehung überfordert, der jüngere Bruder kapselt sich total ab, in der Schule wird das Mädchen von den Klassenkameraden gemieden. Aber all diese widrigen Umstände können ihren Lebenswillen nicht brechen. Sie beißt sich durch, rebelliert, lebt ihre Aggressionen aus und sucht Wege, um das zu bekommen, was sie braucht. Angelika Klüssendorf beschreibt in knapper und präziser Sprache und trockenem Humor, wie sich die Jugendliche in einer schwierigen Umwelt behauptet und den Lebenswillen nicht verliert. Ein Roman, den man „auf einen Rutsch“ herunterlesen will, denn die Hauptperson ist ein starker Charakter und das Buch zeigt sehr realistisch die Lebensumwelt von Jugendlichen, denen wenig Chancen im Leben offenstehen. Andrea Däuwel-Bernd Der Titel ist außerdem als Hörbuch im Medienbestand. Autorenlesung am Dienstag, 13. März, 20 Uhr im Großen Studio |
(c) Alex Reuter |
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Wenn sexuelle Fantasien, Internet und Alltag aufeinanderprallen
Gerstenberg, Franziska: Spiel mit ihr. - Schöffling & Co., 2012. - 258 S. Reife Prosa hat nichts mit dem Alter zu tun. Gerade 32 Jahre alt ist die Autorin Franziska Gerstenberg, und ihr neuer Roman „Spiel mit ihr“ ist eine reife Geschichte über erotische Geheimnisse, über Scham, Intimität und Desillusion. Der Rechtsanwalt Reinhard, über fünfzig, gerät in den pornographischen Kosmos des Netzes. Über Kontaktbörsen findet er eine Partnerin, mit der er seine sexuellen Fantasien ausleben kann. Aber Wünsche und Bedürfnisse beziehen sich nicht nur auf solche Spiele. Und zunehmend geraten Reinhard und seine Partnerin in Abhängigkeiten. Als die Rollenspiele immer bizarrere Formen annehmen, gibt die Tochter seiner Partnerin dem vermeintlichen Spiel eine völlig neue und dramatische Wendung. Die Prosa von Franziska Gerstenberg ist schlicht und doch von einer eindringlich sezierenden Beschreibung. Einsamkeit, Sehnsüchte, Neurosen und erotische Begegnungen beschreibt sie mit subtilen Worten und Momentaufnahmen, und man kann die Empfindungen ihrer Protagonisten, ihre Einsamkeit, Sehnsüchte und ihre Verzweiflung mitleben. Für ihre beiden Erzählbände "Wie viel Vögel" (2004) und "Solche Geschenke" (2007) erhielt Franziska Gerstenberg zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Hermann-Hesse-Förderpreis. Ihr erster Roman „Spiel mit ihr“ liegt druckfrisch in den Buchhandlungen. Die Arbeit an diesem Buch wurde unter anderem mit einem Stipendium der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart unterstützt. Die 1979 in Dresden geborene Schriftstellerin studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und lebt heute in Berlin. Sie ist eine Vertreterin der jungen deutschen Literaturszene, und es lohnt sich, ihren Roman zu lesen Andrea Däuwel-Bernd Der Titel ist außerdem als Hörbuch im Medienbestand. Literatur im Gespräch: Autorenlesung am Donnerstag, 22. März, 20 Uhr im Großen Studio |
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Oldtimer mit Geschichte(n)…
Maak, Niklas: Fahrtenbuch. - Hanser, 2011. - 363 S. Am 3. November 1971 verlässt ein Mercedes 350 SL die Fabrik in Stuttgart-Untertürkheim. Nach 327.000 Kilometern ist er ein Unfallwrack. Was geschah in dieser Zeit, auf dieser Strecke? Wer waren die Fahrer, was passierte auf diesen Sitzen, welche Geschichten findet man, wenn man den Namen im Fahrzeugbrief folgt, und welche Geschichten werden mit diesem Wrack verschwinden? Niklas Maak hat sich inspirieren lassen von einem Fahrzeugbrief und hat sie aufgeschrieben, die Geschichten der Besitzer des Wagens. Da ist der Arzt Bellmann der sich alles leisten kann und sich doch nach ganz anderen Dingen sehnt, der italienische Restaurantbesitzer, der sich mit der Mafia auseinandersetzen muss, die alteingesessene Hamburger Großbürgerfamilie Berkenkamp, die durch die Liebe unversehens mit ostdeutschen Proleten konfrontiert wird, die Radiomoderatorin, die 2001 in der Berliner Szene heimisch ist, der Börsenhändler, der in der Finanzkrise scheitert und viele andere. Sie alle fahren denselben Wagen, ihr Leben und ihre Geschichten sind vielseitig. Niklas Maak versteht es meisterhaft, die verschiedenen Milieus und Lebensentwürfe aufzuzeigen und er findet den richtigen Ton zwischen Satire und Empathie für seine Protagonisten. Gefallen hat mir ganz besonders die absolut skurrile Geschichte von Hannelore Petrowski, die auf der Suche nach einem verlorenen Duft das Alter findet, aber auch das rasant geschriebene Kapitel, in dem der Börsenmakler Berger in die Finanzkrise hineinsteuert. Zum Schluss liegt das Wrack des Mercedes auf einem nordafrikanischen Schrottplatz – ein Autoleben ist zu Ende. Aber Ersatzteile werden immer gebraucht… Andrea Däuwel-Bernd Der Titel ist außerdem als Hörbuch im Medienbestand. Literatur im Gespräch: Autorenlesung am Mittwoch, 28. März, 20 Uhr im Großen Studio |
(c) Barbara Liepert |
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Eine junge Frau und ihre Passion für die Welt der Bücher
Delaflotte, Anne: Mathilde und der Duft der Bücher. – Kindler, 2011. – 251 S. Mathilde ist nach dem Tod ihres Großvaters in ein kleines Dorf in der Dordogne gezogen, um dort als Buchbinderin seine Werkstatt weiterzubetreiben. Ein guter Buchbinder liest nicht, hat Mathildes Großvater immer gesagt. Doch wie soll sie der Versuchung widerstehen? Da betritt ein gutaussehender junger Mann ihre Werkstatt und überreicht ihr ein geheimnisvolles altes Buch mit Brandspuren. Sie soll es bis in ein paar Tagen restaurieren. Beim Durchblättern entdeckt Mathilde wunderschöne Zeichnungen und Aquarelle einer Tempelanlage im Wald.
Mit französischer Leichtigkeit erzählt Anne Delaflotte diese stimmungsvolle, sinnliche Geschichte. Silke Rieger |
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Eine Geschichte von Ende und Neubeginn, voller Poesie
„Nokan“ ist ein wunderschöner Film in faszinierenden Bildern und mit zauberhafter Musik, der ganz zurecht den Oscar für den besten ausländischen Film gewonnen hat. Ruhig, aber auch mit viel Humor erzählt er eine berührende Geschichte über Leben, Liebe und Tod und gibt dabei einen Einblick in eine andere Kultur. Esther Meiers |
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Aufarbeitung eines existenziellen Dramas
Das Wunder der Anden. - Regie: Gonzálo Arijon. - 1 DVD, ca. 115 Min. Ein Flugzeugabsturz am 13. Oktober 1972 in 4000 m Höhe in den schneebedeckten Anden. Der Flug 571 der uruguayanischen Linie Fuerza Aérea auf dem Weg von Montevideo nach Santiago de Chile, an Bord die Rugbymannschaft von Carrasco, Urugay, mit ihren Angehörigen, insgesamt 40 Passagiere und 5 Besatzungsmitglieder. Zwölf starben sofort, fünf weitere überlebten die erste Nacht bei bis zu -40 ° C nicht. Nach zehn Tagen stellen die Behörden ihre Suche ein, und die Mannschaft ist von diesem Zeitpunkt an auf sich alleine gestellt – und sie weiß es aus dem Radio. Das Funkgerät funktioniert nicht, und weit und breit kein Lebenszeichen, kein Tier und keine Hoffnung auf eine menschliche Zivilisation.Als die wenigen sorgsam verwalteten und rationierten Nahrungsmittel zur Neige gehen, sehen sich alle mit einer unmenschlichen Entscheidung konfrontiert: zu sterben oder ihre toten Kameraden zu essen. Alle entscheiden sich – früher oder später -, das letzte Tabu der Menschheit zu brechen, und sie tun das nach schweren inneren Kämpfen mit Respekt und in großer Würde. Jeder gibt zugleich den anderen das Recht, ihn zu essen, falls er selbst vor ihm sterben würde. Undenkbar, welche Szenen sich abgespielt hätten, wären diese Menschen nicht befreundet gewesen, hätten viele sich nicht schon seit Kindheitstagen gekannt. Trotzdem ist es alles andere als selbstverständlich, dass sie diese endlos hoffnungslosen Tage voller Hunger und Verzweiflung mit tiefster Todesangst in engem Zusammenhalt verbringen. Als wäre das nicht genug, trifft am 31. Oktober eine Lawine auf das Flugzeug und überrascht die Menschen im Schlaf, acht weitere sterben, und die anderen durchleben Nahtoderfahrungen. Nun müssen sie auch die Kameraden essen, die soeben noch unter ihnen waren. Nach einigen vergeblichen Versuchen, über die Berge zu gelangen und das Funkgerät in Betrieb zu nehmen, starten drei mit allerletzten Kräften, unzureichender Kleidung und wenigen Lebensmitteln erneut in eine gefahrvolle Expedition in eisiger Kälte und mit wenig Sauerstoff, die die allerletzte Hoffnung für die nunmehr 16 Überlebenden bedeutet. Einer kehrt nach zwei Tagen zurück, um den beiden anderen seine Lebensmittel zu überlassen. Nach zehn Tagen gelingt diesen mutigen Männern das Undenkbare: sie überwinden die Anden, stoßen auf erste Zeichen menschlicher Zivilisation und werden von einem Hirtenjungen gefunden. Am Ende der 72 Tage sind die Männer auf weniger als 38 kg abgemagert, Frauen haben nicht überlebt. Die letzte stirbt in den Armen ihres Bruders. Am 23. Dezember sind alle Überlebenden gerettet. Dreißig Jahre nach dem Unglück ist die Zeit für die Aufarbeitung mit allen Beteiligten gekommen. Sie kehren gemeinsam mit ihren Kindern und den Kindern der Verstorbenen an den Ort des Unglücks zurück. Früher war das nicht möglich. Die Überlebenden sind auch weiterhin eng verbunden und leben als Nachbarn in einem Viertel Montevideos. Kein Vorwurf, keine Schuldzuweisungen ob der Last dieser unmenschlichen Entscheidung, ihre toten Kameraden zu essen. Immer noch wissen sie wie das Parfüm, der Puder der einzelnen Frauen geschmeckt hat. Die Kinder der Verunglückten versichern ihnen, dass ihre Eltern für sie durch ihre Nahrungsaufnahme in ihnen und ihren Kindern weiterleben. Eine starke Szene. Der mehrfach ausgezeichnete Film (u.a. für den „Best Documentary Award“ bei den European Film Awards 2008) kommt gänzlich ohne spektakuläre Bilder aus und geht dennoch tief unter die Haut, berührt er doch die existenziellen Fragen der Menschheit: wie weit darf ein Mensch gehen, wie funktioniert eine Gruppe in einer solchen Extremsituation, gibt es noch Regeln fernab jeglicher Zivilisation, wer wird geopfert, wie wird die Nahrung rationiert und aufgeteilt, wer übernimmt die Führungsrolle, wer kontrolliert die Einhaltung der Regeln, was erwartet uns noch im Leben, was kommt nach dem Tod, wie leidensfähig ist ein Mensch? Keiner kann diesen Fragen ausweichen, jeder muss seine ganz persönliche Antwort darauf finden. Der Regisseur hat für dieses Drama die Form des Interviews gewählt. Chapeau vor Gonzálo Arijon für seine einfühlsame Zurückhaltung. Tanja Schleyerbach |
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Ein Erziehungsratgeber der anderen Art – nicht nur für Eltern
Hüther, Gerald: Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher. - S. Fischer Verl., 2011. - 188 S. |