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Eine außergewöhnliche Annäherung an das Christentum

Kermani, Navid: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. C.H. Beck, 2015. - 302 S.

Buch verfügbar?

Man könnte den Punkt auch wegslassen zwischen Haupt- und Untertitel. Es würde vielleicht sogar treffender zum Ausdruck bringen, was Navid Kermani, der Gottsucher, der Anders- oder Ungläubige, als den er sich sieht, in diesem Buch versucht. Eine staunende Annäherung aus muslimischer Sicht an das Christentum. Dabei ist er tief eingetaucht in die christliche Sprache, Religion, Kunst. Tiefer wohl als die meisten, die sich diesem Glauben zugehörig fühlen. Immer wieder glaubt man herauszuhören, er habe sich verliebt in das Christentum, so wie sich Paolo Dall'Oglio, der Jesuitenpater in Syrien, in den Islam verliebt hat – mit weit reichenden Konsequenzen. Die selbstlose, hingebende Liebe ohne Unterschied ist es, die Kermani am meisten bei den Christen überzeugt, die ihn essenziell trifft, die er gerne für sein Leben übernehmen möchte. Es gibt Elemente des Christentums, mit denen Kermani wie vermutlich alle Anders- und Nichtgläubigen Schwierigkeiten hat, und doch stellt er sich ihnen, setzt sich auseinander und ringt mit ihnen, beleuchtet sie, durchaus auch provokant, bisweilen schwer erträglich. Das Kreuz gehört dazu, die Gottessohnschaft, der Satz „Niemand kommt zum Vater denn durch mich“ und das Abendmahl – zentrale Themen den Christentums. Manchmal findet er einen ganz eigenen, neuen Weg zu ihnen, versöhnt sich, macht sie zu „seinem Christentum“ und erkennt Größe, Reichtum und Schönheit des christlichen Geistes. Er fordert die Christen heraus, sich mit dem eigenen Glauben auseinanderzusetzen, mit dem viele durchaus nicht in allen Punkten einverstanden sind. „Gott lieben, Gott dienen wir aber, wo und wodurch immer wir jemanden um seiner selbst willen lieben, eine Sache um ihrer selbst willen tun.“

Man lernt Neues, lernt Simonida und Petrus Nolascus kennen, kommt ins Nachdenken, versetzt sich in Andersgläubige und Atheisten. Spannend ist Kermanis Annäherung über die christliche Bilderwelt (Caravaggio, Lachner, Zurbaràn, aber auch zeitgenössische Fotografien sind enthalten) an das Christentum, vermischt mit persönlichen Gedanken und Gefühlen dazu, und doch kenntnisreich. Er interessiert sich für die Geschichten, die Menschen der Bibel, für ihre Gefühle, ihre Charaktere, ihr Leben und setzt sie oft unmittelbar in Bezug zu seinem eigenen Leben. Er wertet und interpretiert, was er auf den Bildern sieht, er macht sich angreifbar mit seinen Sätzen. Das Mutterthema berührt ihn, berührt er ebenso wie die Elternschaft oder der gleichmütige Gehorsam Abrahams bei der Opferszene Isaaks. Spannend auch die Thomasbetrachtung mit einem brennenden Plädoyer für das Thomas-Evangelium, die Berufung des Matthäus, aber auch Themen wie Klage, Lust oder Schönheit. Am Ende wird es mit dem Flüchtlingsthema und dem Vergleich der Kreuzfahrer und Dschihadisten auch politisch und zeitnah. Im letzten Kapitel „Freundschaft“ schwingt sich Kermani unter Berufung auf den Heiligen Franziskus zu einem flammenden Plädoyer für eine tiefe mystische Verbindung zwischen den beiden Religionen auf. Ganz nebenbei ist es ein Spaziergang durch die christliche Kunstgeschichte in vierzig Bildern, durch Motive und Lebensthemen mit Zeitbezügen zum Jetzt. Ein ungewöhnliches, anregendes und überaus persönliches Buch des Friedensnobelpreisträgers, und gerne würde man noch mehr Bilder mit Kermanis Augen betrachten.

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Tanja Schleyerbach

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