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Magisches inmitten des Kosovo-Krieges
Obreht, Téa: Die Tigerfrau. - Rowohlt Verl., 2012. - 413 S.
„Am Ende brauchst du nur jemanden, der sich nach dir sehnt, wenn die Zeit gekommen ist, dich unter die Erde zu bringen.“
Es sind ganz und gar unglaubliche Geschichten, von denen die junge 1985 in Belgrad geborene und in den USA aufgewachsenen Autorin zu berichten weiß: von zahmen Tigern und Bären, vom Neffen des Todes, der, obwohl mehrfach erschossen und ertränkt, nicht sterben kann, weil er seinem Onkel nicht den Willen erfüllt hat, vom Großvater Natalias, dem Arzt, der eine Muslimin geheiratet hat, sich mit dem Neffen des Todes trifft und eine Wette verliert. Der Neffe kann im Kaffeesatz lesen, wer sterben und wer weiterleben wird – und zieht damit die Wut der Sterbenden auf sich. Nebenbei ist es ein Buch vom Krieg im Kosovo und seinen Folgen.
Der Satz „Es ist Krieg“ scheint alles zu rechtfertigen, muss für alles herhalten. Der Bevölkerung, soeben noch im Frieden lebend, scheint der Krieg vollkommen unwirklich, und doch ist er plötzlich da, über Nacht. Téa Obreht schreibt wie eine alte Veteranin mit einer glühenden Leidenschaft für das Magische inmitten aller Grausamkeiten, inmitten des Dorfes von Großvaters Kindheit, das außer übelsten Verleumdungen nichts zu bieten zu haben scheint. Dort gibt es einen prügelnden Schlachter, der statt mit seiner Geliebten mit einer tauben Muslima verheiratet wird, und er verschwindet eines Tages spurlos. Der Apotheker wird erschossen, und auch den Tieren im Zoo und in der Freiheit geht es nicht besser. Um sie dreht sich viel in diesem farbenreichen, mythischen Buch voller Aberglauben, das unvergessliche, charakterstarke Figuren lebendig werden lässt und doch der unfassbaren Realität im Kosovo nicht ausweicht. Kunstvoll verwebt Obreht das eine mit dem anderen und zeichnet gleichzeitig ein Gesellschaftsportrait eines hoffnungslosen kosovarischen Dorfes ohne jegliche Bildung.
Erzählt wird das alles von Großvaters Enkelin Natalia, die aus schlechtem Gewissen und unter widrigen Umständen wie ihre Freundin Zora und ihr Großvater ebenfalls Ärztin geworden ist. Die beiden Frauen ziehen mit Impfstoff und Süßigkeiten über Land in Waisenhäuser und helfen, wo sie nur können. Überall sind Kriegsverwundete zu versorgen.
Großvater zieht sich zum Sterben heimlich in Großmutters Heimatstadt zurück. Sein Tod ist Anlass für Natalia, die Familiengeschichte über fünf Generationen noch einmal lebendig werden zu lassen. Zur Großvaters Beerdigung wird Natalia es wohl nicht mehr rechtzeitig schaffen, doch sie rettet seinen Nachlass: die Brille, den Hut, die kleinen Habseligkeiten.
Téa Obreht ist eine grandiose Erzählerin mit einer überbordenden Phantasie, die auf weitere große Werke hoffen lässt. Ihr Debütroman wurde in 30 Sprachen übersetzt.
Tanja Schleyerbach
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Nigerianischer Umweltthriller und Politkrimi
Habila, Helon: Öl auf Wasser. Roman. - Verlag Das Wunderhorn. - 2012, 226 S.
Spannender Roman, der die afrikanische Gegenwart beleuchtet. Ein junger nigerianischer Reporter wittert eine große Story: er will die Hintergründe der Entführung der Frau eines englischen Managers aufdecken. Ist die Britin von einer Rebellengruppe, die gegen die Ausbeutung des Landes durch ausländische Ölfirmen kämpft, entführt worden? Zusammen mit einem älteren und erfahrenen Kollegen reist er von Port Harcourt ins Nigerdelta, um ein Interview mit den Entführern zu machen. Dort wird er konfrontiert mit Dorfbewohnern und Fischern, denen durch die Ölförderung ihre Lebensgrundlage geraubt wird, mit Rebellen, die im Bürgerkrieg mit Ölmultis und Armee stehen, mit Sekten und Umweltzerstörung. Das Öl beherrscht alles, und die Ölpolitik der Herrschenden und internationalen Konzerne zerstört die Lebensgrundlagen von Natur, Tieren und Menschen.
Aus der Sicht des jungen und unerfahrenen Reporters Rufus schreibt Helon Habila einfühlsam und präzise über einen Konflikt, der aufzeigt, wie Afrika heute ausgebeutet wird. Der Roman ist Umweltkrimi und Politthriller, aber auch eine Schilderung des Lebens in Nigeria. Lesenswert!
Helon Habiba wurde 1967 in Nigeria geboren, emigrierte nach England und lebt heute in den USA. „Öl auf Wasser“ ist sein dritter Roman. Das Buch stand im Juli/August 2012 auf der Bestenliste des SWR2.
Andrea Däuwel-Bernd
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Eine große russische Liebe
Tokareva, Viktorija S.: Eine Liebe fürs ganze Leben. - gelesen von Ursula Illert. - Steinbach Sprechende Bücher, 2005. - 3 CDs
Die Russin Irina lebt in den siebziger Jahren mit ihrem Mann Wolodka und ihren zwei Kindern in Baku. Das Leben ist anstrengend für Irina, sie meistert die Schwierigkeiten des Alltags und arbeitet als Lehrerin. Wolodka hat eine Geliebte und verlässt seine Frau und die beiden Kinder. Irina ist dreißig Jahre alt und erwartet nichts mehr von ihrem Leben. Dann aber lernt sie den Aserbaidschaner Kjamal kennen. Er riecht nach Erdbeeren, ist jung und schön. Irina erlebt ein großes Glück. Sie wird mehrfach schwanger, treibt aber zu Kjamals Bedauern jedesmal ab. Kjamal kann seine große Liebe nicht heiraten, da Irina eine Russin und andersgläubig ist. Kjamal heiratet eine andere junge Frau, bekommt einen Sohn und besucht dennoch regelmäßig Irina. Mit Beginn der Perestroika wird die Situation auch für Russen in Baku gefährlich, und Irina verlässt Kjamal, um zu ihren Kindern nach Moskau zu gehen. Das Leben hier ist nicht einfach, aber Irina ist stark genug, um sich durchzusetzen. Sie trifft Kjamal nach Jahren wieder in Moskau. Irina hat einen herrischen Charakter und muss viele Niederlagen einstecken, aber sie kann kleine Glücksmomente wie ihre Enkelin genießen. Keiner kann ihr die Liebe zu Kjamal nehmen.
Der Schreibstil dieses Romans ist einfach und schön, wodurch die Spannung entsteht.Viktorija Tokareva besitzt die Fähigkeit, facettenreich zu schreiben, ohne den Handlungsstrang zu verlieren.
Ursula Illert liest diese Geschichte mit einer gleichzeitig sanften und energischen Stimme, so wie das Leben von Irina beschrieben wird: mit Höhen und Tiefen. Sowohl das Spannungsverhältnis in der lebendigen Stimme von Ursula Illert als auch die Biographie von Irina macht dieses Hörbuch so hörenswert.
Beate Reichmann
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Literatur extra light!
Mahrenholtz, Katharina und Parisi, Dawn: Literatur! Eine Reise durch die Welt der Bücher. - Hoffmann und Campe, 2012. - 183 S.
„Ein Klassiker ist etwas, das jeder gelesen haben möchte, aber keiner lesen möchte“ sagte schon Mark Twain. Dieses Buch behebt das Problem. Literatur-Dummies werden es lieben. Es ist ein humoristischer und doch geistreicher Überblick über die Weltliteratur, geeignet sowohl für „Wer wird Millionär“-Aspiranten, als auch für alle, die durch die Weltliteratur schlawinern wollen, ohne sich durch Gesamtausgaben, Lektürehilfen und Epochenüberblicke zu quälen. Die Autorin beweist Mut zur extremen Lücke, denn Weltliteratur beginnt bei diesem Buch im Jahr 1307: das erste vorgestellte Werk ist Dantes "Göttliche Komödie", dann folgt auch gleich Shakespeares "Hamlet", und so geht es weiter bis hin zu Stephenie Meyer und endet mit "Shades of Grey", das es gerade noch in die letzte Zeile schafft und zeigt, dass die Autorin den Begriff „Weltliteratur“ überaus augenzwinkernd interpretiert.
Dazwischen liegen die Inhaltsangaben von wichtigen Werken, teilweise in kürzester Form, ergänzt mit interessanten, kuriosen und abstrusen Fakten, Anekdoten und Skurrilitäten. Garniert wird das von den witzigen Illustrationen von Dawn Parisi, die auch ein Händchen für übersichtliche Schaubilder hat. Dabei erfährt man manches über die wichtigsten Literaturpreise, über Todesursachen von Schriftstellern, die größten Bestseller aller Zeiten, Autoren und ihre Pseudonyme, längste Sätze, kürzeste Verben, berühmte Buchanfänge und und und…
Ein Buch für Leichtleser, die Weltliteratur nicht zu ernst nehmen, Freude an jugendlich-witziger Sprache haben, Gefallen am Einfachen finden und schon immer mal wissen wollten, was sich noch zu lesen lohnt.
Andrea Däuwel-Bernd
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Eine Frau gestaltet ihre letzten Lebenswochen
Bakker, Gerbrand: Der Umweg. - Suhrkamp, 2012. - 228 S.
Vorsicht ist etwas für gesunde Menschen.
Und für Ältere, keineswegs jedoch für Sterbende, mag man ergänzen. Dass Agnes, die sich in ihrem neuen Leben in Wales im besten Fall Emilie nennt, heißt wie sie heißt und was ihre Geschichte ist, erfährt man nur sehr behutsam, vieles erst auf den letzten Seiten. Harmlos klingen die Geschichten, alltäglich, manche auch mutig, und doch verbirgt sich hinter ihnen ein zu Ende gehendes Leben und eine zerbrochene kinderlose Ehe. Nur wenige Wochen sind Agnes noch vergönnt, und man fragt sich anfangs nichtsahnend, warum sie die vielen Aspirintabletten benötigt, die eines Tages auch nicht mehr ausreichen, um ihre Schmerzen und die Übelkeit zu überdecken. Welcher Art ihre Krankheit ist, erfährt man nie, man ahnt es. Derweil hat sie heimlich ihren holländischen Mann in Richtung Wales verlassen, sich ein altes Haus gemietet und versucht, alleine durch die letzten Wochen ihres Lebens zu gehen in einer Landschaft, die so einsam ist, dass sie sogar am helllichten Tag von einem scheuen Dachs gebissen wird. Dabei sind es immer wieder Männer, die sie aufsuchen und nach ihr schauen, nicht immer in selbstlosen Absichten. Das Stadtkind, die Dozentin, die kurz vor der Dissertation über Emilie Dickinson stand, reduziert ihr zu Ende gehendes Leben auf das Wesentliche.
Ihr Mann Rutger weiß weder um ihre Krankheit noch von ihrer Flucht. Rutger versteht die Welt nicht mehr und zündelt in der Universität, die Agnes wegen eines Verhältnisses mit einem Studenten gekündigt hat. Mit einem homosexuellen Polizisten, der ihn wegen der Brandstiftung eigentlich einsperren sollte, macht Rutger sich auf den Weg nach Wales, wo ein Privatdetektiv Agnes' Spuren ausfindig gemacht hat. Die beiden Männer trinken zu viel und reden zu wenig – sie bleiben sich fremd. Einblick erhält man auch in das sehr bürgerliche Leben von Agnes' Eltern, die dem Schwiegersohn die Schuld für ihre Flucht anhängen.
Dass wir überhaupt an Agnes' Schicksal teilhaben dürfen, ist dem Umstand zu verdanken, dass der zwanzigjährige Bradwen Jones auf der Suche nach sich selbst und einem Fernwanderweg durch einen Umweg an ihrem Haus vorbeikommt und wie selbstverständlich bei ihr einzieht. So gelingt ein Kaleidoskop dieser Welt, in der das Leben einfach ist und manches misslingt. Bakker erspart uns einen Rückblick auf ihr Leben und enthält sich jeglicher Sentimentalität, er beschränkt sich auf Blitzlichter, die es dem Leser selbst überlassen, sich ein eigenes Bild zusammenzusetzen. Die Beziehungen der Protagonisten sind allesamt verkorkst und im Ungleichgewicht. Sie wie auch manches Verhalten Emilies lassen den Leser bisweilen ratlos zurück. Dass Agnes ihrem Leben ein Ende setzt, bevor ihr sich ankündigender Mann sie erreicht, ahnt man schon frühzeitig. Bradwen indes zieht nach seiner Befreiung aus dem Schweinestall, in den ihn Emilie eingesperrt hat, damit er sie nicht vom Sterben abhält, weiter, als wäre nichts gewesen.
Tanja Schleyerbach
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