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Das Leben hinter der Nummer für das Arbeitsamt
Weidenholzer, Anna: Der Winter tut den Fischen gut. Residenz Verl., 2012. - 237 S.
Die Verkäuferin Maria hat viel Zeit, seit sie ihren Job in einem Bekleidungsgeschäft verloren hat. Mit Anfang 50 sind die Aussichten auf eine neue Arbeitsstelle schlecht, sie wird nicht mehr gebraucht. Maria verbringt viel Zeit alleine, sie sitzt auf Parkbänken, schaut den Marktverkäufern zu, spaziert durch die Stadt und flüchtet sich in skurrile Gedanken. Absurde Begegnungen und Gedanken scheinen ihren Alltag zu beherrschen. Ihr Leben scheint ereignislos, langweilig, einsam. Der Leser entwickelt Mitleid mit dieser Protagonistin, die ziellos ihren Alltag mehr schlecht als recht bewältigt.
Doch Anna Weidenholzer wurde mit diesem Roman nicht umsonst für den Leipziger Buchpreis nominiert und hat den Publikumspreis gewonnen. Denn der Roman hat mehr zu bieten als die Chronologie einer Arbeitslosigkeit. In Rückschritten fächert sie das Leben der Verkäuferin Anna bis zur Kindheit auf, und man erfährt, welches Leben hinter der Nummer für das Arbeitsamt stand. Eindrucksvoll gelingt es der jungen österreichischen Autorin, das gesellschaftliche Drama der Arbeitslosigkeit an einem Einzelschicksal deutlich zu machen und darüber hinaus eine Form zu finden, wie sie die Spannung und die Anteilnahme des Lesers für die Protagonistin für den Leser steigert. Dabei spielt sie subtil mit Erwartungen. Und als das Leben von Maria in der Rückschau aufgefächert wird, gewinnt der Buchtitel eine ganz neue Bedeutung. Sehr schöner, poetischer und feinsinniger Roman von einer jungen Autorin, die man sich merken sollte.
Andrea Däuwel-Bernd
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Charmante Geschichte über ein französisches Dorf
Stagg, Julia: Monsieur Papon oder ein Dorf steht Kopf. – Hoffmann und Campe, 2012. - 349 S.
Ein englisches Ehepaar kauft die zum Verkauf stehende Auberge des Deux Vallées in einem kleinen französischen Dorf. Für den Bürgermeister ist das eine Katastrophe, wollte doch sein Schwager Besitzer des Restaurants werden. Außerdem können Engländer nicht kochen! Unverzüglich wird ein Notstandskomitee zusammengerufen, um die neuen Besitzer wieder zu vertreiben. Doch es gibt auch Bürger, die den beiden eine Chance geben möchten, und so wird eine Intrige nach der anderen gespannt, die die liebenswert schrullige Dorfgemeinschaft vorübergehend aus den Fugen geraten lässt.
Wem die Geschichte gefallen hat, kann im zweiten Buch von Julia Stagg erneut auf die netten, lustigen Dorfbewohner treffen.
Silke Rieger
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Neue Klänge mit Akkordeon
Vincent Peirani: Thrill Box. - ACT, 2013. - 1 CD
"Wunderkiste" wird das Akkordeon auch genannt und wie dieses Instrument mit den vielen Knöpfen meisterhaft gespielt wird, hört man bei dem aus Südfrankreich stammenden Vincent Peirani. Er ist trotz seiner jungen Jahre ein beseelter Musiker von besonderem Format und in seinem Heimatland bekannt und gefragt. Dabei sind die Bandbreite seiner Musik und seine musikalische Fantasie erstaunlich. Scheinbar mühelos kann er zwischen den musikalischen Welten einer französischen Musette und komplexen Rhythmen des Balkans wechseln. Peirani lässt sein Instrument singen und entdeckt neue Klangwelten. Zusammen mit Michael Wollny, Preisträger des Echo Jazz 2013, am Klavier und Michel Benita am Bass bildet er ein perfekt eingespieltes Ensemble, das virtuos musiziert. Auch seine Gastmusiker Michel Portal an der Bassklarinette und dem Bandoneon sowie Emile Parisien am Sopransaxophon integriert er bestens. Es ist nicht verwunderlich, dass Vincent Peirani mit seinem Akkordeon in der Spitze der europäischen Jazzmusiker zu finden und ein gefragter musikalischer Partner ist. Auch seine eigene Musik überzeugt!
Axel Blase
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Philosophische Anregungen für alle
Knapp, Natalie: Kompass neues Denken. – Rowohlt, 2013. – 332 S.
Jenseits von Richtig und Falsch gibt es einen Ort. Dort werden wir uns begegnen.
Rumi
Der promovierten Philosophin, Literaturwissenschaftlerin und Religionsphilosophin Natalie Knapp, die als freie Autorin und Kulturredakteurin für den SWR arbeitet, gelingt es in ihrem neuen Buch „Kompass neues Denken“, komplizierte philosophische und andere Denkstrukturen in nachvollziehbare Gedanken umzuwandeln, ohne Banalitäten zu verbreiten. Gleichzeitig ist ein Ratgeber entstanden, mit hochgradig dynamischen und komplexen Herausforderungen des alltäglichen Lebens so umzugehen, dass Leben tatsächlich gelingen kann – nicht nur das eigene.
Über Jahrzehnte und Jahrhunderte funktionierende menschliche Planungen und Denkweisen werden durch die Globalisierung, neue Technologien und dem damit einhergehenden elementaren Entzug der bisherigen Lebensgrundlagen in atemberaubender Geschwindigkeit außer Kraft gesetzt, aber was füllt die entstandene Leere, und wie kommen wir über diese Phase der Unsicherheit, des Macht- und Kontrollverlustes und der maßlosen Überforderung in allen Lebensbereichen hinweg, ohne zu verzweifeln oder in Schockstarre zu verfallen? Wie verkraften wir die täglich auf uns einströmenden Informationen, an denen wir nichts ändern können und denen wir hilflos ausgesetzt zu sein scheinen?
Komplex oder kompliziert, Planung und Kontrolle versus Umgang mit Unsicherheit und Kontrollverlust, die Stärke und Nützlichkeit der Gruppenimprovisation, der Mythos vom Wachstum, Knapp durchforstet alle Lebensbereiche, von der Macht des Einzelnen über sein Leben, seiner Wahrnehmung und seiner Bewertung der Tatsachen, vom Wert gelingender Beziehungen und Kommunikation, von der Kunst des Zuhörens, vom Sinn der Gelassenheit für das eigene Leben, von der Antriebskraft des Ungleichgewichts, von der Definition und Relativierung des Ichs, bis zur Macht der Phantasie, dem Schatz der Kreativität und der Frage, wann man sich zum letzten Mal wirklich lebendig gefühlt hat. Dazu gibt es Kompassübungen zum Selberdenken und Aufschreiben, die auch gleich ihre eigenen Thesen in Frage stellen dürfen. Das macht Knapps Buch so erfrischend unkonventionell: es ist frei von Dogmen und Moral und dafür voller Anregungen, es geht tief und führt einen jeden, der sich darauf einlassen mag, ganz zu sich selbst und zur Beziehung mit allem Lebendigen.
Natalie Knapp ist ein wunderbares, nützliches, anregend zu lesendes und überaus kluges Buch zum Selberdenken und Ausbrechen aus jeglichen konditionierten Standardprogrammen, die nicht mehr greifen, gelungen. Für alle!
Tanja Schleyerbach
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Eine dunkle Kindheit in den 60-er Jahren
Sievers, Corinna T: Das Leben ist schön und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung. Nautilus, 2012. - 93 S.
Nicht einmal 90 Seiten und eine dürre Sprache ohne Schachtelsätze oder mehrdimensionale Erzähltechniken benötigt Corinna T. Sievers, um das Schicksal der kleinen Ute so lebendig werden zu lassen, dass man versucht ist, es ins Reich der Fantasie abzuschieben. Doch Utes Geschichte ist viel zu wahr. In einem westdeutschen Ostseebad wird 1966 ein Kind mit „Hasenscharte“, einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, und sechs Fingern und sechs Zehen „und wer weiß, was noch“ in die Welt hinausgestoßen. „Du siehst aus wie ein Schaf und klingst wie ein Schwein“. Marianne, ihre um sechs Jahre ältere Schwester, zeigt dem Postboten die Kleine, und seither weiß das ganze Dorf um die „Missgeburt“. Doch Marianne weiß, der Pfarrer sagt, „die Letzten werden die Ersten sein“, und das Letzte ist Ute bestimmt, wenn auch nicht die einzige „Missgeburt“ im Dorf. Ihr Vater ist nach der Geburt gegangen, den er wollte kein Mädchen mit sechs Fingern, sondern einen Sohn. Die Tabletten und das Bier haben die Mutter schon zuvor am Leben erhalten. Marianne sorgt für die Kleine, denn die Mutter vergisst, es zu füttern. Und doch wirft sie sie eines Tages in das kalte Meer, damit es von den Fischen aufgefressen wird. So käme der Vater wieder zurück, und sie bekäme ein Brüderchen mit fünf Fingern. Doch der „Dorftrottel“ findet das Menschlein und bringt es zurück. Sein Leidensweg sollte erst anfangen. Niemand fragt, wie es ins Meer gelangt war. Also kommt der Vater nicht zurück, und stattdessen kommt ein Onkel aus dem Nachbardorf regelmäßig zu Besuch.
Marianne und Ute spielen bald Mutter und Onkel - bei Kerzenschein, wie der Pfarrer es ihnen aufgetragen hat. Die Kerzen sammelt Ute auf dem Friedhof ein. Die im Haus lebende Großmutter bekocht und schlägt sie, die Mutter stiehlt ihr das wenige Taschengeld der im Haus lebenden Oma und sieht tatenlos zu, was fortan geschieht. Für den Onkel wird die verwahrloste Mutter bald uninteressant, und er entdeckt das Schlafzimmer der Mädchen für seine Bedürfnisse. An guten Tagen schlafen die Mädchen auf der Decke, an schlechten darunter. Als Ute eingeschult wird, wird sie wegen ihrer undeutlichen Aussprache verlacht, und von dem Moment an schweigt sie, bis sie 14 Jahre alt ist. Nicht einmal Marianne hört sie jemals wieder reden. Als Unberührbare übersteht sie irgendwie das Mobbing auf dem Schulhof und stiehlt Bücher, in deren Welt sie abtauchen kann.
Bevor Marianne als Sechzehnjährige eine Stelle als Kindermädchen in einer Kreisstadt antritt und dem Onkel damit freien Zugang zu Ute verschafft, klärt sie diese noch auf. Sie wird nur Kinder mit Hasenscharte und sechs Fingern gebären. Seitdem ist Utes Beschützerin vor den Schulkindern und dem Onkel nicht mehr. Sie hat von nun an vier männliche Peiniger. Der Onkel zieht bei ihnen ein und vertreibt Ute aus ihrem Zimmer und Bett. Jede Nacht übergibt sie sich. Ihr einziger Freund ist der Tod, und alle ihre Peiniger sollen den Tod finden, aber das braucht Zeit und Geduld. Auch der neue Lehrer schlägt sie, sie nimmt es hin wie ein Lamm. Wie auf die Schlachtbank weist sie der Onkel, um sie in allen Spielarten zu vergewaltigen, und es gelingt ihr, ein Kind von ihm zu verhüten. Dafür beginnt sie, sich zu ritzen, bis ihr ganzer Körper mit Narben übersät ist. Ute verliebt sich in Volkan und – unfassbar – er sich in sie. Die zarte Bande wird überschattet von Utes Schicksal. Der „Kanake“ und die „Missgeburt“, beide Außenseiter. Volkan will sie heiraten, aber sie soll Jungfrau sein. Utes Geschichte geht aus, wie sie ausgehen muss. Sie überlebt ihre Peiniger nicht lange. Aber sie rächt sich an ihnen.
Utes Geschichte ist wahr, und sie ist zu Ende. Eine junge Verwandte der Autorin schreibt 2011 zur Veröffentlichung des Buches, dass sie von ihrem Vater ebenfalls jahrelang und im Stillschweigen der Familie missbraucht wurde, ihre Kindheit in Dunkelheit und Schweigen verbrachte. Ihre Geschichte ist auch wahr. Aber sie ist noch nicht zu Ende.
Tanja Schleyerbach
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