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Differenziertes Portrait dreier Frauengenerationen
Pehnt, Annette: Chronik der Nähe. Roman. - Piper, 2012. - 215 S.
Anette Pehnt erzählt eine Geschichte dreier Frauengenerationen vom Krieg bis heute, wie sie wohl gar nicht so selten vorkommt. Sehr genau und kühl beobachtet sie, wie sich Großmutter, Mutter und Tochter bewegen zwischen Nähe und Distanz, zwischen Annäherung und Abstoßen, zwischen Liebeswerben und Liebesentzug und doch in allen Varianten nur das eine zu wissen begehren: Liebst Du mich auch wirklich? Dazu dienen die Machtspiele und der emotionale Druck, das schwierige Schweigen und das muntere Quasseln, die Lieblosigkeiten und Liebesbezeugungen, die subtilen Vorwürfe und der beleidigte Rückzug.
Annie ist die einzige, die in dem Buch einen Namen trägt, und sie will viel wissen von ihrer Mutter, der Oma, der Kaltmamsell: Mama, brennt das Haus ab. Oder die Schule. Gehst Du weg. Lässt du mich allein. Stirbst du bald. Kommt bald Krieg. Und wenn doch. Mutters Antwort: Du musst bei mir bleiben. Wo soll Annie denn sonst hin. Sie hat Übung im Zuschauen beim Weinen der Mutter. Ihre Beine gehen nicht mehr im Krieg, nicht einmal mehr in den Luftschutzraum. So schläft sie alleine im Keller des Nachbarn. Mal ist es Annie, die scheinbar emotionslos und gerade dadurch erschütternd von ihrer Kindheit berichtet, mal ist es ihre Tochter. Da ist die Oma, Annies Mutter, die nicht verrät, woher sie im Krieg die frische Butter bekommt und welche Opfer sie dafür bringt. Da ist Annie, die das Spielen verlernt und alle Puppen verloren hat und grapschende Männer in Mutters Suppenküche bedienen muss, die die Jungen aufreißt, sich einen Studienplatz gegen den Willen der Familie erkämpft und später bei ihrer eigenen Tochter und Enkeltochter emotional versagt, sich ruppig abschottet und doch nichts lieber möchte, als von ihr verstanden und geliebt zu werden. Da ist Annies Tochter, die für die Erinnerungen zuständig ist. Und die vierte Generation – wieder ein Mädchen. Männer kommen in diesem Buch nur als Randfiguren vor, sie fallen tot um oder bleiben gleich namenlos, gesichtslos, der Junge, der „Richtige“. Omas platzen einfach, wenn sie sterben.
Es sind keine Skandale, keine gut gehüteten Familiengeheimnisse, die aus den unterschiedlichen Perspektiven aufgedeckt werden, es ist ein ganzer Kosmos an gestauten Gefühlen und Verhaltensmuster dreier Frauen. Weitergegeben, verfremdet, wiederholt in unzähligen Varianten, Wut auslösend, Unverständnis und Missverständnisse produzierend, sprachlos machend. Jede vermeintlich im Recht und am meisten verletzt, unverstanden. Rasiermesserscharf beobachtet Pehnt jede feinste Nuance der weiblichen Kommunikation, insbesondere auch des (Straf-)Schweigens. Verbitterung, Enttäuschungen, unerfüllte Erwartungen, Verletzungen, alles wird seziert, und das macht diesen emotionalen Kosmos so lesenswert, so hautnah, so berührend. Besser könnte man es selbst nicht festhalten, ja nicht einmal denken. Angst vor Nähe, Angst vor Umarmungen, Angst vor Distanz und Vergessenwerden, Angst vor Verlassenwerden, Angst vor Einmischung, Angst vor Geliebtwerden und Angst vor Lieblosigkeit, Angst vor Schweigen und noch mehr Angst vor Fragen. Ob es gut geht, die Muttertochterreise nach Rügen. Bei der die Tochter endlich die ersehnte Nähe zur Mutter zu finden hofft, um nach allem, nach früher zu fragen. Rollenwechsel, heute die Mutter, morgen die Tochter. Vernichtende Blicke. Umarmen geht gar nicht, auch nicht am Sterbebett. Erinnerungen kriechen hoch. Pehnts Sätze brennen sich ein, sind brillant getroffen, man könnte sie immer wieder lesen, in sich aufsaugen, findet sich in ihnen wieder. Eher eine Chronik der Distanz denn der Nähe. Eine ewige Suche nach Nähe. Erfolglos.
Tanja Schleyerbach
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Was wir wollen, ob wir wollen oder nicht – gefangen in der Filter-Blase
Pariser, Eli: Filter Bubble. Wie wir im Internet entmündigt werden. - Hanser, 2012. – 287 S.
Wir nutzen das Internet, um uns zu informieren, uns unterhalten zu lassen, Nachrichten zu erfahren, zu kommunizieren, uns darzustellen und für vieles mehr. Das Internet ist für Viele zu einem unverzichtbaren Informations- und Kommunikationsinstrument geworden. Und manch einer verzichtet dank frei zugänglicher Informationen im Internet auf die Nutzung kostenpflichtiger Quellen wie Zeitungen oder Zeitschriften.
Aber was, wenn gar nicht alle die Möglichkeit haben, dieselben Nachrichten zu erhalten? Wenn Meldungen im Internet nicht mehr für die Allgemeinheit zugänglich sind und die gleiche Suchanfrage nicht bei jedem zum gleichen Ergebnis führt, sondern durch Filterung und Personalisierung ein auf jeden individuell zugeschnittenes Internet entsteht, das uns nicht mehr über den Tellerrand blicken lässt? Welchen Einfluss haben Google, Facebook, Amazon & Co. auf unseren Zugang zu Informationen im Internet, auf unsere Meinungsbildung und damit letztlich unser Verhalten?
In den Anfängen des Internet herrschte laut Eli Pariser die Idee, dass das Internet zur Demokratisierung und freien Meinungsbildung beitragen könne. Doch hat es sich wirklich zu einem solchen Instrument entwickelt? Wie sieht es heute aus und wie vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft? Ermöglicht uns das Internet freien Zugang zu Wissen und Informationen und lässt uns alle ein wenig näher zusammenrücken oder nimmt es uns in einer immer engeren Ich-Schleife gefangen?
Eli Pariser zeigt die historische und aktuelle Entwicklung des Internet und macht die Auswirkungen von personalisierten Filtern, Like-Buttons und der Weitergabe persönlicher Informationen im Internet deutlich. Er gibt einen Einblick in die Denkweise und Firmenphilosophien von Gründern großer Internet-Konzerne und technischen Entwicklern und legt die verborgenen Algorithmen von Suchmaschinen und anderen Internetdiensten offen.
Ein spannendes Sachbuch für alle, die das Internet nutzen. Für Befürworter ebenso wie für Kritiker.
Esther Meiers
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Vivaldis Gassenhauer für das 21. Jahrhundert
Recomposed by Max Richter : Vivaldi – the four seasons. - Daniel Hope. - Konzerthaus Kammerorchester Berlin. - André de Ridder. - Deutsche Grammophon. - 1 CD. - 2012, ca. 46 Min.
Mit dieser CD erschien zum ersten Mal eine Neukomposition in der Reihe „Recomposed“ der Deutschen Grammophon. In dieser Reihe wurden bisher CDs veröffentlicht, bei denen klassische Werke von führenden Künstlern der Clubmusikszene neu interpretiert wurden. Der Komponist Max Richter, 1966 geboren und bisher hauptsächlich als Komponist von Filmmusik bekannt, komponierte hingegen gleich ein neues Werk und führt damit Vivaldis Gassenhauer „Die Vier Jahreszeiten“ ins 21. Jahrhundert. Dabei ist es Max Richter gelungen, Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ so zu bearbeiten, dass man auf der einen Seite noch viele Melodien aus dem Original erkennen kann. Gleichzeitig ist das Werk mit vielen Elementen der modernen Musik gespickt, so dass diese CD eine wunderbare und spannende Entdeckungsreise ist und nicht nur dem ausgesprochenen Klassik-Fan viel Freude bereiten wird. Das Werk wurde für diese CD extra neu eingespielt: Daniel Hope spielt zusammen mit dem Konzerthaus Kammerorchester Berlin unter der Leitung von André de Ridder.
"Die größte Herausforderung Medienbestand darin, eine konsistente und kraftvolle Neubearbeitung zu erschaffen, einen experimentellen Hybrid, der zu jedem Zeitpunkt funktioniert und Sinn ergibt, der immer ‘Vivaldi’, aber auch zugleich immer ‘Richter’ und heutig ist und den ursprünglichen Geist dieses großen Werks wahrt."
Barbara Münz
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Treffen sich ein Autor, ein Bankberater und Bruce Willis
Rammstedt, Tilman: Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters. - DuMont, 2012. - 190 S.
Angeblich war das mit dem Buchcover für „Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters“ so: Den Verlagsleuten war es zu urban. Als Platzhalter fügten sie eine weiße Katze hinzu. 'Lass die Katze drauf, ich schreib' die schon rein', hat angeblich der Autor gesagt. Die Katze kommt im Roman dann doch nicht vor, sondern nur ein Hund. Der ist zwar tot, trägt aber wesentlich zum Fortkommen bei.
Total schräg und witzig ist der Roman „Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters“ von Tilman Rammstedt. Er ist nicht nur der Autor, sondern darin auch einer der drei Protagonisten. Die anderen sind sein Bankberater und der Schauspieler Bruce Willis. Weil Tilman Rammstedt mit seinem Roman über einen Bankberater mit Lebenskrise nicht so recht vorwärts kommt, bittet er den international bekannten Schauspieler und Actionhelden Bruce Willis per Mail, doch ein bisschen Schwung in die Sache zu bringen, zum Retter zu werden und einen Part zu übernehmen. Nur Bruce Willis kann das Manuskript noch retten, dem Autor zum Erfolg verhelfen und den Bankberater aus der Lebenskrise erlösen. Und so entwickelt sich eine zunehmend fantastische Geschichte, in der der Autor mit Verlag, Privatleben und Schreibhemmung kämpft, dabei Bruce Willis mit E-Mails zuspamt, dieser so gar nicht kooperativ sein will und ganz gegen seine sonstige Art null Action zeigt und der Bankberater Philosophisches von sich gibt und seine eigene Bank überfällt. Diese Handlungsebenen verbinden sich. Beim Lesen bekommt man so die Entstehungsgeschichte mit. Eine Geschichte, die also auf einer Meta-Ebene spielt. Und diese intelligente Konstruktion ist das, was beim Lesen am meisten Spaß macht. Lesevergnügen pur!
Der Autor Tilman Rammstedt (geb. 1975) lebt in Berlin. Zusammen mit anderen Autoren, u.a. Michael Ebmeyer, hat er die Musik- und Literaturgruppe Fön gegründet. 2008 erhielt er den Ingborg-Bachmann-Preis.
Andrea Däuwel-Bernd
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Vom Umgang mit dem Grauen
Amish Grace. - Regie: Gregg Champion. - 2012. - 1 DVD, ca. 88 Min.
Amish Grace konzentriert sich auf ein einziges großes Thema: die Vergebung. Die Amish sind eine Glaubensgemeinschaft in den USA, bei der alles anachronistisch zu sein scheint: kein Telefon, kein Auto, keine Waschmaschine, kein Fernseher, kein Fotoapparat, kein Fahrrad und auch sonst kein einziges technisches Gerät ist in den Häusern der Gläubigen zu finden. Wäsche wird von Hand geschrubbt, die Fortbewegung geschieht mittels Kutschen oder zu Fuß, Fotos sind verboten. Sie leben gewaltfrei und praktizieren die Feindesliebe. Individualismus und die Freiheit des Einzelnen wird unterdrückt, alles hat sich dem Glauben und der Gemeinschaft unterzuordnen. Von außen betrachtet scheint das Familienleben eine fröhliche, in sich geschlossene, heile Welt zu sein, um Jahrhunderte zurückgeblieben. Doch diese Welt, wenn sie es je war, bleibt nicht heil. Auch hier geschieht, was immer öfters durch die Medien geistert: Am 2. Oktober 2006 erschießt der Milchwagenfahrer Charles Roberts in der kleinen Amish-Schule in Nickle-Mines, Pennsylvania, fünf Mädchen und anschließend sich selbst. Sein Beweggrund: sich an Gott zu rächen, der sein viertes Kind unmittelbar nach der Geburt zu sich genommen hat.
Grund genug, für die Amish, ihren Hass auszuleben, sich ebenfalls zu rächen und ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Doch der Gemeindevorsteher, ein Vater und Gideon Graber, der Vater der ermordeten neunjährigen Marie Beth, suchen Charlies Frau Amy noch am Tag des Geschehens auf, um ihr ihr Mitgefühl für den Tod ihres Mannes auszusprechen, der sie mit drei kleinen Kindern zurücklässt, um ihre Unterstützung anzubieten und um das zu tun, wozu Amy nicht fähig ist: ihrem Mann zu vergeben. Fassungslos darüber ist Amy ebenso wie ihr Vater, aber auch Marie Beths Mutter Ida, die ihrem Mann Verrat an ihrer noch nicht einmal beerdigten Tochter vorwirft. Ida ist die einzige, die ihre Gefühle innerhalb der Gemeinschaft auslebt und am Tag nach der Beerdigung mit ihrer übriggebliebenen Tochter Katie ausbrechen möchte, zu ihrer Schwester Ellen ziehen. Sie wurde ausgestoßen, nachdem sie nach dem Tod ihres Mannes einen „Weltlichen“ geheiratet hat. Ida soll den Kontakt zu Ellen abbrechen. Aber sie sehnt sich nach ihr, die ihr Fotos von den Kindern schickt, die sie vernichten soll. Auch Ida hätte nun gerne ein Foto von Marie Beth. Es würde sie trösten. „Dem Mörder meiner Tochter wird vergeben, aber meiner Schwester nicht.“ Ida bringt damit ein Grundproblem von extremen Glaubensgemeinschaften zum Ausdruck – der Umgang mit Abtrünnigen. Es stürzt sie in tiefe Konflikte. Die anderen Eltern lassen die allzu menschlichen Gefühle nicht zu, machen sie mit sich selbst aus: Leugnung, Wut, Hass, Ablehnung. Nur ihre Trauer ist spürbar, besonders, als eine Trauerbegleiterin sie auffordert, zu reden. Amy ist ebenfalls gekommen. Ida ist ausgerechnet ihr in ihren Gefühlen am nächsten – und genau deswegen kann sie ihr nicht begegnen und läuft immer wieder davon. Die beiden Frauen verbindet der Hass auf Charlie.
Katie fühlt sich schuldig, weil sie noch am Leben ist und trägt ebenfalls Hass in ihrem Herzen. „Du kannst ihn hassen, so lange Du willst. Aber wie fühlt der Hass sich für Dich an?“ Gideon geht den Gefühlen seiner Tochter nicht aus dem Weg. „Vergebung ist kein einfacher Weg“, wie Ida ihm vorwirft. „Aber der Hass ist ein hungriges Biest und frisst den Platz für die Liebe im Herzen vollständig auf.“ "Vergebung kommt aus einem offenen Herzen und ist frei von Bedingungen." Katie beschließt, zu vergeben und noch ein bisschen zu hassen.
Eine Reporterin ist hin- und hergerissen zwischen ihrem Auftrag, die sensationelle Haltung der Amish auszuschlachten und in Ida womöglich ein Mitglied zu finden, das nicht in der Spur bleibt und ihrem Wunsch, Ida als Frau und Freundin in ihren Gefühlen beizustehen und ihr aus der Glaubensgemeinschaft herauszuhelfen. Als Charlie beerdigt wird, kommt die gesamte Gemeinde der Amish dazu – auch Ida. Sie kann Amy nun vergeben. Am Ende bleibt sie in der Gemeinschaft – sie nimmt Katie nicht auch noch den Vater, aber eine Zukunft in Freiheit. Amerika sieht zu, wie die Amish für den Mörder beten und ihm vergeben. Auch Marie Beth hat das getan, ein überlebendes Mädchen erzählt von ihren letzten Minuten. „Wie könnte ich weniger tun als Marie Beth?“ - Ida übernimmt das letzte Vermächtnis ihrer Tochter.
Im Dezember 2012 waren ganz ähnliche bemerkenswerte Worte vom Vater der sechsjährigen Emily zu vernehmen, die beim Amoklauf in Newtown ums Leben kam – seine Tochter habe das so gewollt.
Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit, die handelnden Personen sind frei erfunden. Überaus realistisch kriechen die Szenen und Gefühle unter die Haut. Gregg Champion hat eine beeindruckende Verfilmung vorgelegt, Kimberley Williams-Paisley eine erstklassige Schauspielerleistung.
Tanja Schleyerbach
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