Empfehlungen Juni/Juli 2014
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Dreimal Familie
Drei Romane, die um das Thema Familie kreisen und lesenswert sind Leo, Per: Flut und Boden. - Klett-Cotta, 2014. - 348 S.
Mein absolutes Lieblingsbuch der letzten Wochen, weil es Familien- und Zeitgeschichte auf eine ganz besondere Weise erzählt und der Autor komplexe Gesellschaftsthemen mit anspruchsvollem Stil und feinem Humor abhandelt. Der Roman wurde im Frühjahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Die amerikanische Autorin Louise Erdrich ist eine Chronistin der amerikanischen Ureinwohner. Sie gibt in ihren Romanen authentische Einblicke in das Leben in den Reservaten. In den USA wurde sie 2012 dafür mit dem National Book Award ausgezeichnet. Eine Entdeckung - hoffentlich für alle, die das Buch in die Hand nehmen. Andrea Däuwel-Bernd |
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Die "Familiengespenster" der Kriegsenkel
Nach Sabine Bodes Auseinandersetzung mit den Kriegskindern in ihrem Buch „Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“, wendet sie sich der nächsten Generation und den Spätfolgen des Krieges infolge deren weitergegebenen, weil nicht aufgelösten Traumata zu. Es ist die Generation der heute 40- bis 55-jährigen, die nach ihren Analysen aufgrund von Spätfolgen der Gewalt der unfassbaren Kriegserlebnisse ihrer Eltern und Großeltern in Form von Blockaden, Ängsten, Verunsicherung und Unselbständigkeit in ihren Lebensentwürfen teilweise massiv eingeschränkt ist. Die Spuren der deutschen Vergangenheit sieht Sabine Bode in den „Familiengespenstern“ der Kriegsenkel, und in der Tat lassen sich gemeinsame Spuren in den dreizehn beispielhaft ausgewählten biografischen Geschichten nicht leugnen, so unterschiedlich sie auf den ersten Blick auch sein mögen: Gewalt und Gefühllosigkeit im Elternhaus, folgenschwere Bindungsunfähigkeit, jahrelange spätpubertäre Kämpfe mit den Eltern, missglückte Abnabelungsversuche, innere Leere, Nebel, Zwänge, Süchte, Angstzustände, Perfektionswahn, Angepasstsein, Gefühllosigkeit und instabile Persönlichkeitsstrukturen mit vielfältigen psychischen und psychosomatischen Krankheitsbildern. Menschen, die selbst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter nicht wissen, warum sie ihre Träume nicht auch nur ansatzweise verwirklichen können, ja sie oftmals noch nicht einmal wahrnehmen, weil sie (oftmals unbewusst) viel zu sehr mit dem traumatischen Erbe - u.a. Vergewaltigung der Frauen durch russische Besatzer und Kriegserlebnisse der Männer auf dem Schlachtfeld - ihrer Familie beschäftigt sind, die sich in Verhaltensmustern ausdrücken, die auf keine freie Entfaltung der Persönlichkeit schließen lassen. Erst allmählich kann die nachfolgende Genration, wie einige der geschilderten Biografien nahelegen, in mannigfaltigen Therapien und mit einem mutigen Blick in die meist schmerzhafte Vergangenheit erkennen und auflösen, was sie möglicherweise ihrerseits unreflektiert bereits wieder an ihre eigenen Kinder weitergegeben hat. Kritisch mag man anmerken, dass sich für Bode Lebensglück offenbar primär in einer geräuschlosen Karriere und einem Familienleben mit Kindern ausdrückt, einer doch eher subjektiv-eindimensionalen Perspektive eines erfüllten Lebens. Ein zweiter Punkt mag ebenfalls nachdenklich stimmen: Bode liefert in den Fallbeispielen keine wissenschaftlich fundierten Forschungsergebnisse, die nachweisen, dass die Lebensängste und Blockaden tatsächlich (ausschließlich) auf die Kriegserlebnisse der (Groß-)Elterngenerationen zurückzuführen sind, wenngleich vieles darauf hindeutet und aus der Traumapsychologie hinreichend bekannt ist. Dennoch: Ein lohnenswertes, nachdenklich stimmendes und im besten Fall aufrüttelndes Buch, bei länger anhaltenden schweren Lebenskrisen genauer hinzusehen und den Ursachen in der eigenen Familiengeschichte nachzugehen – auch gegen den erbitterten Widerstand einer Generation, zu deren (unbewussten) Überlebensmechanismen das Verdrängen, Totschweigen, Verharmlosen und bisweilen sogar das Schützen von Tätern gehören kann. Tanja Schleyerbach |
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Die Wiederendeckung der Lebensfreude im Gazastreifen
Michel-Amadry, Marc: Zwei Zebras in New York. - Ungekürzte Lesung. - Sprecher: Leonard Hohm. - Steinbach Sprechende Bücher, 2013. - 2 CD, 150 Min. Weil ihm das Geld für Futter fehlte, sind dem Zoodirektor Mahmoud Barghouti im Gazastreifen die Zebras verhungert. Um den Kindern in schlimmen Zeiten Freude zu spenden, greift er kurzerhand zu Pinsel und Farbe und bemalt zwei Esel mit Streifen. James, ein Kriegsberichterstatter der New York Times, ist von dieser herzerwärmenden Geschichte so berührt, dass er darüber einen Artikel schreibt. Dieser wird auf fast magische Weise das Leben vieler Menschen verändern: Der ehrgeizige Unternehmensberater Mathieu aus Paris und die angesagte, aber einsame Malerin Mila in New York, der unerschrockene Nahost-Korrespondent James und die temperamentvolle DJ Jana aus Berlin finden durch die Geschichte der wundersamen Zebras aus dem Gazastreifen an einem klirrend kalten Januartag in New York zueinander. Es ist eine anrührende Geschichte um Liebe und Hoffnung wider Vorurteile und Grenzen - eine Wiederentdeckung der LEBENSFREUDE! Ulrike Dahl |
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Afghanische Lebensgeheimnisse
Stein der Geduld. - Regie: Atiq Rahimi. - 1 DVD, 2012. – 99 Min. Der Stein der Geduld ist einer persischen Legende nach wie eine Klagemauer, ein geheimes Tagebuch, dem man alles anvertrauen kann, bis er aufgrund des Gehörten am Jüngsten Tag in tausend Stücke zerbirst. Der Stein der Geduld, das ist für eine namenlose bildschöne Frau (Golshifteh Farahani) in Afghanistan ihr Ehemann nach einer Kriegsverletzung im Koma, der alles mitanhören muss, was in selbsttherapeutischer Funktion umso heftiger aus ihr herausbricht, je sicherer sie wird, dass er nie wieder die Augen öffnen wird. Nur selten verlässt die Frau das kärgliche Zimmer, in dem sich Unvorstellbares abspielt: ein stotternder Jüngling in voller militärischer Montur unternimmt im Beisein des komatösen Gatten gegen Bezahlung, mit der sie Medikamente für ihrem Mann kaufen kann, seine ersten hilflosen sexuellen Versuche an der Frau, deren kleine Kinder längst außer Haus untergebracht sind. 99 Tage lang rezitiert die gläubige Frau je einen der 99 Namen Allahs, um für die Heilung ihrs Mannes zu beten. Warum eigentlich, fragt man sich, je mehr sie von sich und ihrer Leidensgeschichte preisgibt. Warum pflegt sie ihn aufopfernd? Warum möchte sie überhaupt, dass dieser Mann wieder zum Leben erwacht? Möchte sie es wirklich, oder vollzieht sie gedankenlos nur ein Ritual? Der Monolog, den die Frau ihrem Mann und der Welt zu erzählen hat, lässt einem den Atem stocken, alle Lebensgeheimnisse, die in einer von Männern und einem totalitären Islam dominierten Gesellschaft nur schwer vorstellbar sind - unterbrochen von den alltäglichen Wahnsinnigkeiten und der ungebremsten Brutalität des Krieges auf kleinstem Raum - dringen in das Herz des Zuschauers. Zum ersten Mal im Leben ist ihr Mann dazu verdammt, ihr zuzuhören. Endlich. Das Ende - ein wenig zu schnell, ein wenig zu glatt, ein wenig zu dramatisch und irgendwie vorhersehbar - hätte man sich auch anders vorstellen können, schmälert den Verdienst dieses intensiven Einblickes in den Alltag afghanischer und stellvertretend möglicherweise anderer Frauen in totalitären Kriegssystemen voller Unterdrückung, Fremdbestimmung und Unfreiheit nur marginal. Rahimi ist ein bedrückend-verstörendes Kammerspiel gelungen, das neben der Geschichte von der iranischen Hauptdarstellerin lebt, eine kongeniale Verfilmung des eigenen, 2008 mit dem Prix Goncourt prämierten gleichnamigen Buches, das in den überaus realistischen, weil trostlosen Bildern einer vom Krieg erschütterten und zerstörten Gesellschaft eine gleichrangige Ausdrucksform findet und mit dem Medium des Films genau das herausarbeitet, was er im Buch mit Sprache zu übermitteln versucht. Tanja Schleyerbach |