Empfehlungen August/September 2014
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Eine Außenseiter-Geschichte und die wundersame Wandlung seiner Umwelt
Palacio, Raquel J.: WUNDER. - Lesung. Sprecher: Andreas Steinhöfel; Sascha Icks; Birte Schnöink. - Silberfisch, 2013. - 4 CD, 300 Min. Ein Leben als Außenseiter führt August Pullman schon seit er denken kann. Er kam mit dem Treacher-Collins-Syndrom, einer erblichen Erkrankung, die zu Gesichtsfehlbildungen führt, zur Welt. Mit seinen zehn Jahren hat er schon über 20 Operationen hinter sich, die einzig dazu dienten, dass August fast normal sprechen und essen kann, sein Äußeres jedoch kaum veränderten. - Er sagt von sich selbst: „Ich werde nicht beschreiben, wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt – es ist schlimmer!“ Seine Umwelt reagiert eigentlich immer gleich auf ihn. Die Leute sind geschockt und starren ihn an. Sein großes Glück ist, dass er eine Familie hat, die ihn bedingungslos liebt und versucht, ihn zu beschützen. Bislang wurde August zu Hause von seiner Mutter unterrichtet, doch wie soll er durchs Leben kommen, wenn er immer von allem abgeschirmt wird? Und so kommt er an eine Privatschule Manhattens in die fünfte Klasse, muss sich mit den normalen Sorgen jedes Fünftklässlers und eben den nicht ganz normalen Sorgen eines August Pullmann herumschlagen. Er weiß, dass die meisten Kinder nicht absichtlich gemein zu ihm sind. Am liebsten würde er gar nicht auffallen. Doch nicht aufzufallen ist nicht leicht, wenn man so viel Mut und Kraft besitzt, so witzig, klug und großzügig ist - wie August. „WUNDER“ erzählt die Geschichte einer Wandlung – die Wandlung eines Jungen, der im Laufe eines Schuljahres immer selbstbewusster wird und der es schafft, allein durch seinen Charakter die Herzen der Anderen zu gewinnen. Und es ist eine Geschichte über das Anders-Sein in einer der schwierigsten Phasen des Lebens: der Schulzeit. Die Geschichte wird etappenweise aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt, so kommen neben August auch dessen Schwester Via, deren Freund Justin, ihre Freundin Miranda und Augusts neue Freunde Jack und Summer zu Wort. Das alles ist mit so viel Humor und Liebe zu den einzelnen Personen geschrieben, dass man gar nicht dazu kommt, August zu bemitleiden. Das Buch ist nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2014, Kategorie Preis der Jugendlichen Ulrike Dahl |
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So haben sie Russland noch nie gesehen!
Zu Zeiten, in denen Russland hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wahrenommen wird, ist ein ganz anderer Blick auf das mit großem Abstand größte Land der Erde sehr zu empfehlen. Die Dokumentarfilmer der sechsteiligen Serie haben weder Kosten noch Mühen gescheut, Bergwisente im Kaukasus, Amur-Tiger am Strand, kämpfende Wildschafe, Moschusochsen und Riesenseeadler, die Geburt europäischer Nerze, Baikalrobben unter Wasser oder Chinesische Weichschildkröten bei der Jagd unter Wasser an 1.200 Drehtagen in 600 Stunden Rohmaterial festzuhalten. Zweieinhalb Jahre benötigten sie für die Drehzeit, 100.000 Reisekilometer wurden dabei zurückgelegt, Temperaturen zwischen -50° C und + 40° C ertragen, ein Drehort auf über 5.000 Höhenmeter und der niedrigste auf 30 m unter NN aufgesucht. Während der Dreharbeiten wurden Zelte weggespült, Drehmaterial während des Georgienkonflikts beschlagnahmt, ein Heißluftballon stürzte ab, ein Schulterblatt zerbrach, ein Schlauchboot mit Kameraausrüstung kenterte mitten im Winter, ein Kameramann stürzte vom Pferd, ein Zahn musste selbstständig auf einer einsamen Insel im Polarmeer gezogen werden, eine Schlammlawine bedrohte eine der sechs Crews, und ein Eisbärenangriff und ein Giftschlangenbiss machte den mutigen Männern ihre Arbeit nicht gerade einfach. Durch alle Klimazonen und und Lebensräume des Kaukasus, Urals, Sibiriens, der Arktis, des Fernen Ostens und Kamtschatkas führt die faszinierende Reise. Berückend schöne Landschaftsaufnahmen wechseln sich mit seltenen Tierbeobachtungen aus nächster Nähe ab, und wilder und unberührter mag man sich kaum eine andere Region der Erde vorstellen. Russland wie Sie es noch nie gesehen haben! Tanja Schleyerbach |
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Von einem folgenschweren Dienstgang
Andreas Izquierdo: Das Glücksbüro. Roman. - Gesprochen von Christoph Jablonka. - audio media Verl, 2013. - 4 CD. - 450 Min. Formulare, Stempel, Dienstvorschriften sind seine Welt, in der er sich gut eingerichtet hat. Ganz wörtlich, denn Albert arbeitet nicht nur in dem Amt, er wohnt auch dort. Von allen unbemerkt hat er im Keller einen kleinen Raum bezogen und verbringt zufrieden seine Tage im immer gleichen Rhythmus. Denn die Welt draußen macht ihm Angst. Zu viel Lärm, zu viele Menschen, zu viel Veränderung, das ist nichts für Albert. Sein Amt dagegen ist ein Hort des immer Gleichen. Jeder Tag verläuft genau wie der vorige, und Albert fühlt sich inmitten der Vorschriften und Formulare wohl. Bis er eines Tages den Antrag E 45 auf seinem Tisch findet. Dieses Formular existiert gar nicht, und nirgends steht, was eigentlich beantragt wird. Auch Alberts Vorgesetzter kennt keinen Antrag E 45. Da Albert sich weigert, den Antrag einfach nur abzulegen, schickt sein Vorgesetzter ihn auf einen Dienstgang, um die Antragstellerin aufzusuchen. Und so lernt er Anna kennen, Anna Sugus: Künstlerin. Chaotin. Ein Wunder an Unordnung. Und ehe Alberts sichs versieht, steht seine Welt Kopf... Wie Albert durch Anna Sugus sein Leben verändert und aus seinem (grauen) Schneckenhaus hervorkommt, wie aus Alberts Büro das Glücksbüro wird, und wie er anderen Menschen zum Glück verhilft, liest sich herzerwärmend schön. Ulrike Dahl |
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Boshafter finnischer Witz gepaart mit Spannung
Paasilinna, Arto: Die Giftköchin. - Ehrenwirth, 1998.- 209 S. Arto Paasilinna schreibt mit einer boshaftigen Witzigkeit und gleichzeitig spannend. Dieser Autor ist ein wahres Lesevergnügen. Ein Krimi anderer Sorte, man steht auf der Seite der Täter. Beate Reichmann |
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Vier Jahre auf der Flucht
Geda, Fabio: Im Meer schwimmen Krokodile. Eine wahre Geschichte. – Knaus, 2010. – 186 S. Drei Dinge soll Enainat niemals und unter keinen Umständen im Leben tun: 1. Drogen nehmen 2. Waffen benutzen 3. Stehlen. Der Zehnjährige - so genau weiß man das nicht, gibt es doch im schönsten Ort der Welt, seinem Heimatdorf in der afghanischen Provinz Ghazni, in dem man mit ausgekochten Schafsknochen spielt, kein Geburtenregister - verspricht seiner Mutter, sich an diese Regeln zu halten, bevor sie ihn außer Landes geschmuggelt mutterseelenalleine in der pakistanischen Stadt Quetta zurücklässt – ohne Abschied, ohne Zukunft, ohne Perspektive. Nicht weil sie eine Rabenmutter wäre, sondern weil die Hazara von den Taliban in Afghanistan bekämpft werden wie die Ratten und sein Lehrer von den Taliban vor seinen Augen und denen aller Schüler erschossen wurde, weil dieser sich geweigert hat, die Schule zu schließen. Weil die Taliban drohen, die ganze Familie umzubringen. Weil sein Vater nicht mehr von einer Auslandsreise zurückkam und die Kinder als Ersatz für die verlorenen Waren als Sklaven mitgenommen werden sollen. Weil seine Mutter ihn irgendwann nicht mehr verstecken kann. Sie schickt ihn auf eine ungewisse Reise, und ihre Hoffnungslosigkeit muss größer sein als die Angst, ihren Sohn nie wieder zu sehen. Was Enaiatollah zusammen mit Fabio Geda in dem schmalen Band erzählt, lässt den Atem stocken und gibt annähernd eine Vorstellung, welche Schicksale Menschen, die in deutschen Flüchtlingsheimen ankommen, widerfahren sein kann und wie groß die Verzweiflung sein muss, um solche unvorstellbar unmenschlichen Strapazen auf sich zu nehmen. Vier Jahre ist das Kind über die Länder Pakistan, Iran, Türkei, Griechenland und Italien auf überfüllten Booten, die diesen Namen nicht verdienen, in Lastwagen, Bussen und unter größter Todesgefahr unterwegs, arbeitet unter demütigenden Bedingungen, die es als die beste Zeit seiner Flucht bezeichnet, lernt Menschenfreundlichkeit und Menschenverachtung gleichermaßen kennen, muss zahllose Rückschläge und Umwege verkraften, Freunde verlieren, über Leichen steigen, wie ein Stück Holz behandelt werden, drei Tage ohne Essen, die Möglichkeit des Toilettengangs und ohne Licht in einem 50 cm hohen Lastwagenverschlag kauern im Bewusstsein, wieder erwischt zu werden und zurück auf LOS zu müssen, das für die Schlepper monatelang hart verdiente Geld neu ansparen zu müssen oder aufzugeben. Am Ende der vier Jahre ist Enainat erwachsen geworden und hat alles gesehen, was nicht in ein Menschenleben passt. Verbittert ist er darüber nicht geworden, und acht Jahre nach Beginn seiner unfreiwilligen Flucht telefoniert er zum ersten Mal wieder mit seiner Mutter in Afghanistan. Sie schweigen und weinen. Es gibt nichts zu sagen. Was wie ein harmloses Jugendbuch aussieht – und für Jugendliche aufgrund der wenig komplizierten Sprache durchaus geeignet ist - gibt Einblick in ein aufwühlendes Leben, das Mut macht, niemals aufzugeben, alles zu wagen, dem Leben in jeder Situation die besten Seiten abzutrotzen und die eine und andere vermeintliche eigene Wichtigkeit zu relativieren. Tanja Schleyerbach |
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Neues zu Georg Kreisler:
Kreisler, Georg: Lieder und Chansons, Band 1. – Schott, 2014 – 188 S. Die Annäherung an einen Künstler kann bisweilen schwierig sein. Hinter der Fassade eines so wortgewaltigen und vielseitig begabten Künstlers wie Georg Kreisler (1922-2011) einer war, ist der Mensch nicht leicht zu entdecken. Kreisler, als jüdisches Kind im Wien der 1920er und 30er Jahre aufgewachsen, musste 1938 mit seinen Eltern in die USA emigrieren. 1955 kehrte er nach Österreich zurück, seine amerikanische Staatsbürgerschaft aber behielt er bei. Die geistige Auseinandersetzung mit seinem Heimatland war eine der Inspirationsquellen seiner Kunst, doch Österreich versagte dem Komponisten, Sänger und Schriftsteller fast zeitlebens die Anerkennung. Vielleicht ist gerade sein vielgerühmter und berüchtigter schwarzer Humor Ausdruck eines tieferen Zweifels am Guten im Menschen. Der Dokumentarfilm von Dominik Wessely über den Menschen und Künstler Georg Kreisler zeichnet ein facettenreiches Bild und ist die Annäherung an einen Künstler, der unter anderen Umständen vielleicht „nur“ ein ernsthafter Komponist geworden wäre. Kreislers Lebensweg und seine Ideenwelt werden durch die persönlichen Äußerungen von Eva Menasse, Barbara Kreisler, Konstantin Wecker und anderen Zeitzeugen aufschlussreich kommentiert. Ein hervorragend gemachter und anregender Film über einen der Großen des Kabaretts. Eine neu erschiene Notenausgabe legt erstmals Lieder und Chansons von Georg Kreisler im Notensatz vor. Viele seiner Stücke sind „Everblacks“ geworden: musikalisch anspruchsvoll, voller Sarkasmus und Raffinement. Der erste der auf drei Bände angelegten Ausgabe versammelt 30 Lieder, die inhaltlich nach den Themen Alltag und seine Bewältigung, Politik und öffentliche Ordnung, Surreales und Philosophisches, Heimat und Heimatlosigkeit geordnet sind. Axel Blase |