Empfehlungen Oktober/November 2014
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Spannungsreiche Reise zweier Brüder
Hoepner, Hansen; Hoepner, Paul: Zwei nach Shanghai - 13600 Kilometer mit dem Fahrrad von Deutschland nach China. - Piper, 2013.- 269 S. Hansen und Paul erleben immer wieder sehr glückliche Momente, begegnen Menschen, die ihnen helfen, werden aber auch in Kasachstan in eine üble Schlägerei verwickelt. Die Sandstürme in der Taklamakan-Wüste bewältigen die zwei Abenteurer mit eisernem Durchhaltevermögen. Auf den Passstraßen Chinas holen sie alles aus sich heraus, um ihr Reiseziel pünktlich zu erreichen. Die Fotos machen die Reisebeschreibung lebendig. Nicht nur das Abenteuer wird detailgenau von beiden Brüdern geschildert, sondern auch ihre Beziehung, die durch diese Reise enger wird. Es ist eine lebhafte, manchmal philosophische Geschichte über zwei unabhängige, willensstarke, junge Menschen. Spannend wie ein Kriminalroman. |
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Lust auf Lyrik
Thalmayr, Andreas: Lyrik nervt. Ein Erste-Hilfe-Buch für alle, die meinen, daß sie nichts mit Gedichten anfangen können. - Hanser, 2014. - 120 S. „Lyrik nervt“ – mit so einem Buchtitel dürfte der Autor sicher vielen Menschen aus der Seele sprechen, da den meisten Schülern mit der ersten Gedichtinterpretation das Thema Lyrik verleidet wurde. Der Autor dieses gut 100 Seiten starken Buches aber schafft es, uns die Schönheit der Lyrik wieder aufzuzeigen, und es gelingt ihm auf sehr unterhaltsame Art und Weise. Denn „Lyrik ist cool“. Und so ist „Lyrik nervt“ keine Lehrwerk für die perfekte Gedichtinterpretation, sondern „ein Erste-Hilfe-Buch für alle, die meinen, dass sie nichts mit Gedichten anfangen können“. Dem Autor ist es wichtiger, dass man sich an den Gedichten erfreut. Zwar erklärt er auch wichtige Begriffe (Jamben, Stabreim…) und Formen (Sonett). Aber er betont immer wieder, dass diese Dinge unwichtig sind. Neben vielen Beispielen berühmter Dichter hat der Autor - hinter dem Pseudonym Andreas Thalmayr versteckt sich ein berühmter Publizist - am Ende auch noch ein Kapitel zum Thema „Selber machen“ ergänzt. Dieses Sachbuch lässt sich gut lesen und macht Lust auf Lyrik. Unbedingt lesen. Barbara Münz |
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Ein japanischer Inspektor auf Abwegen(Vorsicht, das ist kein Krimi!) Jäckle, Nina: Der lange Atem. - Klöpfer & Meyer, 2014. - 171 S. Der lange Atem gehört dem Meer, es atmet aus, ins Land hinein und nimmt im Einatem mit, was es bekommen kann. Ein Inspektor und seine Frau haben es überlebt, die Tsunami-Katastrophe in Fukushima vor 1,5 Jahren. Der Inspektor ist ein exzellenter Phantomzeichner von Beruf. Sein Leben gestaltet sich fortan in Vierstundenrhythmen. So lange benötigt er, bis aus einem Foto, das niemand sehen will, ein Phantombild geworden ist. Sie werden ausgehängt, die Überlebenden können ihre Angehörigen identifizieren, verabschieden, beerdigen. Er nimmt den Überlebenden die Hoffnung und gibt ihnen dafür Gewissheit. Eine Frau bittet ihn um ein Portrait ihres verschollenen Zwillingsbruders. Damit die Mutter im Frieden sterben kann. Der Inspektor weigert sich und weiß doch, er muss sich auf diesen Betrug einlassen, für die Frau und ihre Mutter. Immer wieder zeichnet er ihn, und eines Tages hängt er ihn zu den Vermissten. Als ein Gesicht fertig ist, erkennt er darin seine Tante. Landschaften malt er keine mehr. Statdessen zeichnet er die verschollenen Hochzeitsfotos seiner Frau. Er kann sie manipulieren, so wie den falschen Toten. Im Geist zeichnet er die Lebenden zurück, bis sie nur noch ein Skelett sind. Vom Gesicht seiner Frau trägt er Haut, Gewebe, Muskeln ab. Schädel gleichen sich erschreckend, das Individuelle zerfällt. Das Fehlen existiert unumgänglich allüberall. Alles, was bisher das Leben war, ist nicht mehr. Das Nachbarskind Aoko ist nicht mehr, des Inspektors Tante und der Vater der Frau, Nachbarn, Freunde, sie sind nicht mehr. Was man nicht mehr hat, kann man nicht verlieren. Der Inspektor kann nicht gehen, und er kann nicht weinen. Das Bleiben ist mutig geworden, nicht das Fortgehen. Er muss die Gesichter der Verschollenen zurückzeichnen, ihnen ein Gesicht geben und den Schrecken, die Verletzungen, das Grauen wegzeichnen. Geisterhaft die Landschaft, angst- und trauervoll die Seelen. Die Überlebenden in den Containern können von Glück reden, aber niemand redet mehr von Glück, kein Trost nirgends. Die Relationen sind verloren gegangen. Die Worte Freitag, Nordosten, Meer, Haus, Dach und Wand haben eine neue Bedeutung bekommen, klingen anders. Die Containerkinder bilden ihre Abzählreime aus den Wörtern Jod, Cäsium und Plutonium. Zeugnisse werden geschrieben und nicht mehr abgeholt, Verträge müssen gekündigt werden, und man wartet immer noch auf die getroffene Verabredung. Mit seiner Frau spricht der Inspektor nur noch das Nötigste, es gibt keine Fragen und keine Wünsche mehr. Die Frauen im Dorf streiten nicht mehr, und sie haben sich nichts mehr zu erzählen. Wortlosigkeit ist ungleich Schweigen. Man lebt „Trotzallem“. Seine Frau packt den Koffer. Falls das Erdbeben wieder kommt. Zeichnend verarbeitet der Inspektor auch, dass der Koffer und der Mantel seiner Frau eines Tages fehlen. Jeder Glücksmoment sollte von nun an ausgesprochen werden, keiner ist mehr selbstverständlich. Harmlos kommen Jäckels destillierte Sätze daher, doch gleich unter der Oberfläche sitzt das Grauen, bedrückend, schonungslos ehrlich und ohne Hoffnung. Miniatursätze, die einem die Luft nehmen und das Herz zusammenziehen lassen. Große Literatur. Die Autorin war am 18. September in der Reihe Auslese zu Gast in der Stadtbibliothek Reutlingen. |
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Dreimal: Was Gegenstände erzählen
Krohn, Tim: Aus dem Leben einer Matratze bester Machart. - Es sind nicht immer menschliche und tierische Protagonisten, die im Roman ihre Schicksale mit dem Leser teilen. In dieser kleinen Erzählung des Schweizer Schriftstellers ist es eine Matratze. In acht Episoden begleiten wir sie und ihre Besitzer von 1935 an durch 60 Jahre. Ein jüdischer Fabrikant im Tessin, drei Kinder in einem Luftschutzkeller im Tessin, bis hin zum Mittelmeer, wo sich ein Schiffbrüchiger an sie klammert. Europäische Zeitgeschichte, festgemacht am Lebenslauf einer Matratze - hört sich verrückt an, funktioniert aber erstaunlich gut! Kann man Geschichte mit Hilfe von Dingen erzählen? Man kann. Anhand von 100 Objekten vom Alltagsgegenstand bis zum Kunstwerk, alle aus dem Besitz des Britischen Museums, erzählt der Direktor des Britischen Museums die Kulturgeschichte der Menschheit von etwa 1,2 Millionen Jahren v.Chr. bis zur Gegenwart. Geschichte aus ganz ungewöhnlicher Perspektive betrachtet, nämlich durch Gegenstände, die Symbol sind für menschliche Erfahrungen und unterschiedliche Gesellschaftsformen. Als Buch, aber fast noch schöner als üppiges Hörbuch mit 20 CDs! Garfield, Simon: Karten! Ein Buch für alle mit Fernweh und ohne Naviagationsgerät. Jahrtausende haben die Menschen ihr Weltbild mittels Landkarten konkretisiert. Der Journalist Simon Garfield beschreibt die Geschichte der Kartografie von ihren Anfängen bis in das heutige digitale Zeitalter. Er beginnt mit der Weltkarte, die 2010 von Facebook aus deren Kontakten generiert wurde und auf der alle Facebook-Mitglieder weltweit verzeichnet sind. In den folgenden stellt er wichtige Meilensteine der kartografischen Entwicklung vor. Er versteht es, die Faszination, die von alten Landkarten ausgeht, zu vermitteln. Das unterhaltsame, gut recherchierte und populärwissenschaftlich geschriebene Sachbuch spricht alle an, die sich für Geschichte interessieren. |
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Rührende Geschwisterliebe im Iran
Kinder des Himmels. - Regie: Majid Majidi. - 1997. - 1 DVD. - 84 Min. Auch wenn der Film des iranischen Regisseurs Majid Majidi in die Jahre gekommen ist, die Geschichte ist es nicht: Was ein paar Schuhe wert sein können, kann man erst verstehen, wenn zwei Kinder sich eines teilen müssen. Ali soll die Schuhe seiner Schwester Zarah beim Schuster abholen, lässt diese jedoch beim anschließenden Einkauf liegen, und sie werden von einem Straßenkehrer für seine Tochter mitgenommen. Dass alle beteiligten Menschen in dem iranischen Ort in unvorstellbarer Armut leben, ist offensichtlich. Fortan teilen sich Zarah und Ali dessen Schuhe, und das ist gar nicht so einfach. Die Eltern sollen es nicht mitbekommen, die Lehrer auch nicht, und in der Schule herrscht Schuhpflicht. Zum Glück hat Zarah immer vor Ali Schulunterricht, und so läuft sie am Mittag so schnell sie kann zu einer verabredeten Straßenecke, um ihm die Schuhe für seinen Nachmittagsunterricht zu übergeben. Und dann entdeckt Zarah ihre ausgelaufenen Schuhe an einem anderen Mädchen. Sie sagt nichts, beobachtet und glaubt, dass das Mädchen die Schuhe noch dringender braucht als sie. Bis diese eines Tages mit neuen Schuhen auftaucht und Zarahs alte entsorgt hat. Ali schafft es oft nicht rechtzeitig in die Schule und soll wegen seines häufigen Zuspätkommens vom Unterricht ausgeschlossen werden. Wäre da nicht ein Lehrer, der sich für den begabten und fleißigen Jungen einsetzt. So darf Ali sogar an einem Laufwettbewerb teilnehmen mit dem letzten Paar Schuhe, das den beiden geblieben ist, und er fängt an zu trainieren, um sich einen Traum zu erfüllen: den dritten Preis gewinnen, ein paar Sportschuhe. Natürlich kommt es, wie es kommen muss, denn es ist nicht so einfach, ausgerechnet einen dritten Platz zu erlaufen. Ein herzerwärmender Kinderfilm für die ganze Familie, der von der schauspielerischen Gabe der beiden Kinderdarsteller Amir Farrokh Hashemian und Bahare Seddiqi lebt. Tanja Schleyerbach |
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Aus dem Liebesleben einer Putzfrau
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