Empfehlungen Dezember 2014/Januar 2015
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Apokalypse in Zürich
Federspiel, Maurus: Feind. Roman. - van Eck, 2014, 136 S. Dennis Gutson ist ein Superstar, wo er hinkommt, liegt ihm die Welt zu Füßen. Er hat ein weitläufiges Haus in Zürich, ein ganzes Heer an Personal. Ein Traum – und doch wird dieser zum Alptraum. Zuhause ist der Star exzentrisch, bösartig und dekadent. Das Leben entgleitet ihm, immer öfter wird er in seinem Haus Zeuge von befremdlichen Vorgängen. Gutson sieht seine Welt mehr und mehr aus den Fugen geraten, alles wird surreal und bizarr. Er wird von Schmeißfliegen, vom Haus selbst, vom Personal, von einer fiktiven Kinderarmee bedroht. Er irrt durch Räume, durch Straßen, ohne Orientierung und Ziel. Aus Zürich wird New York, alle vertrauten Strukturen lösen sich auf. Und das Haus als letzter Zufluchtsort verkehrt sich ins Gegenteil. Grausig und spannend bis zur letzten Seite ist dieser kleine Roman. Die Phantasie des Autors ist verblüffend, akkurat. Kalt und genau schildert er das Auflösen von Vertrautem und Alltäglichen. Debütroman eines jungen Schweizer Schriftstellers für alle, die ungewöhnliche Texte mögen. Ich hatte Gänsehaut beim Lesen und war von der präzisen Sprache und der Handlung fasziniert. Andrea Däuwel-Bernd |
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Vatererkenntnisse für alle
Böttcher, Sven: Quintessenzen. Überlebenskunst für Anfänger. – Ludwig, 2013. – 160 S. Sven Böttcher, Bestsellerautor und TV-Produzent, mitten im Leben im Jahr 2005 von Multipler Sklerose heimgesucht und Ende 2007 fast gelähmt, entscheidet sich für Wege abseits der Schulmedizin – erfolgreich. Was ihm in dieser vermeintlich letzten Lebenszeit für seine drei Töchter und ihren weiteren Überlebensweg erwähnenswert scheint, fasst er in Quintessenzen zusammen. Herausgekommen ist ein äußerst unterhaltsamer und realistisch-optimistischer Lebensbegleiter, der nicht nur für Jugendliche, sondern auch für Erwachsene, die noch nicht mit ihrem Leben abgeschlossen haben, lebenskluge Erkenntnisse bereithält, die alltagstauglich scheinen, auch wenn man nicht jede teilen muss. In Form von Lexikonartikeln in bisweilen flapsiger Sprache mit Tiefgang macht Böttcher sich nicht nur Gedanken zu philosophischen Themen wie Liebe, Zeit, Angst, Glück und Tod, sondern auch zu Energie, Wasser, Kinder, Gesundheit und Geld. Anregend und immer wieder überraschend. Tanja Schleyerbach |
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Musikalische Glanzlichter
Round Nina - A tribute to Nina Simone. - Verve, 2014. - 1 CD Eine außergewöhnliche Sängerin zu ehren, ist kein leichtes Unterfangen. Auf der vor kurzem erschienenen CD tragen Melody Gardot, Youn Sun Nah, Ben L'Oncle Soul, Gregory Porter, Sophie Hunger und fünf weitere Sänger dazu bei, indem sie bekannte Stücke von Nina Simone neu und aus ihrer Perspektive interpretieren. Um es vorwegzunehmen: das Projekt ist gelungen, und es sind individuell geprägte musikalische Glanzlichter entstanden, die auch durch ihre Anordnung auf der CD bestechen. Stimmungsvoll oder unterhaltend im besten Sinne wird die Musik von den Sängerinnen und Sängern mit Kraft und Wärme zu neuem Leben erweckt. Man lauscht sich durch die Songs – und vielleicht kann man so ein bisschen getröstet sein, dass Nina Simones Stimme verstummt ist. Axel Blase |
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Ein zeitloser Klassiker über ein Huhn namens Sprosse
Hwang, Sun-Mi: Das Huhn, das vom Fliegen träumte. – Kein & Aber. – 156 S.
Die Legehenne Sprosse – so nennt sie sich selbst - legt immer kleinere Eier und beschließt eines Tages, überhaupt keines mehr zu legen, denn sie werden ihr ja ohnehin jeden Tag von der Bäuerin weggenommen. Ihr größter Traum ist es, ein Ei auszubrüten, Mutter zu werden, ein eigenes Kind großzuziehen, nicht wissend, dass keines ihrer Eier je befruchtet wird. Eher schon droht Sprosse der Suppentopf, weil sie als Legehenne zu nichts mehr nutze ist. Sprosse gelingt es, auszubrechen, den Blüten legenden Akazienbaum als Schattenspender zu entdecken, sich zu verlieben, ein Enten-Adoptivkind großzuziehen und alles zu geben, um ihm eine überragende Mutter zu sein. Es folgt wie im wirklichen Leben die Abnabelung von „Kleines“ mit allen damit verbundenen Gefühlen.
Die Bewunderung für dieses mutige, unternehmungslustige und tapfere Huhn wächst von Seite zu Seite. Am Ende stirbt eine weise Sprosse, gereift und abgeklärt, bereit zum Sterben, den Traum vom Fliegen niemals aufgegeben, glücklich nach einem harten Leben in Freiheit.
Es sind die wirklich großen menschlichen existenziellen Lebensthemen, die Hwang in dieser Parabel auf eine berührende Weise in Sprosse zum Leben erweckt: Liebe und Eifersucht, Kinderwunsch und Adoption, Zärtlichkeit und Opferbereitschaft, Mut und Angst, Kämpfen und Aufgeben, Hoffen und Verzagen, Enttäuschung und überschwängliche Freude, Mobbing und Solidarität, Schwäche und Wiederaufstehen, Einsamkeit, Freiheitsdrang, Verlassenwerden, Altern, Machtproben, Hingabe, Zerrissenheit, tiefe Trauer, unerfüllte und erfüllte Träume, unbeschreibliche Glücksmomente und natürlich immer wieder der Tod.
Hwang schafft es, Sprosses reiches Gefühlsleben und ihr bewegtes Dasein mit all seinen Höhen und Tiefen in einer schlichten Sprache zu vermitteln, dass einem das Herz brechen könnte. „Das Huhn, das vom Fliegen träumte“ erfüllt viele Voraussetzungen für einen zeitlosen Klassiker. Aus dem Englischen wurde der Roman von Simone Jacob vortrefflich ins Deutsche übersetzt.
Sun-Mi Hwang ist Autorin und Professorin für Literatur in Seoul.
Tanja Schleyerbach |
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Einblicke in das Leben eines Seilbahnarbeiters
Seethaler, Robert: Ein ganzes Leben. Roman. – Hanser, 2014, 154 S. Es sind Einblicke nicht in ein ganzes halbes Jahr, nein, in ein ganzes Leben, das des Seilbahnarbeiters Andreas Egger im 20. Jahrhundert in einem abgelegenen Tal in den Bergen, das in aller Schlichtheit erzählt wird. Zugleich werden die Menschen dieses Dorfes lebendig, ihre Denk- und Verhaltensweisen, die geistige, seelische und physische Enge und in die zahllosen unvorstellbaren Entbehrungen, Strapazen, Härten, trotz derer sie das Leben irgendwie ertragen. Mit vier Jahren kommt der verwaiste Andreas zu einem Bauern, der außer Beten, Arbeiten und körperlichen Misshandlungen nichts für den Ziehsohn vorgesehen hat. Er schlägt ihn zum Krüppel, so dass dieser den Rest seines Lebens nur noch hinkend verbringen kann. Irgendwann kauft sich der unermüdlich Arbeitende ein winziges, vollkommen wertloses Grundstück, auf dem er sein eigener Herr ist. Es folgt der Weltkrieg und acht Jahre Kriegsgefangenschaft in Russland, die einzige Gelegenheit, zu der Andreas das Dorf jemals verlässt. Zuvor aber bricht Marie in sein Leben ein, die Liebe seines Lebens. Der Heiratsantrag ist sensationell einzigartig und der Höhepunkt seines Lebens. Doch Marie fällt aufgrund der Rodungen für die neue Seilbahn einer Lawine zum Opfer, und von da an ist es vorbei mit Andreas‘ unverhoffter Zweisamkeit. Nach vielen Jahren harten Arbeitens für die Seilbahnfabrik, die den Tourismus und viel Lärm, aber auch Arbeitsplätze in das stille Tal bringt und die nach Andreas‘ Kriegsgefangenschaft nicht mehr existiert, schlägt er sich mit einfachen Gelegenheitsjobs und endlich als selbstständiger Bergführer wacker durch die ihm verbleibenden Jahre. Auch dessen wird er überdrüssig, hält die Menschen und den Lärm nicht mehr gut aus und zieht sich immer mehr und immer weiter von der Zivilisation zurück. Die Menschen des Dorfes halten ihn schon lange für einen reichlich abgedrehten Sonderling. Sein Ziehvater und Marie begegnen ihm gegen Ende seines Lebens noch einmal auf sehr verschiedene Weise. Der mehrfach ausgezeichnete Robert Seethaler zeichnet ein scharfsichtiges Kaleidoskop einer sich wandelnden dörflichen Gesellschaft, in der die Menschen und deren Zusammenleben durch die einbrechenden Fremden und den rasant wachsenden Tourismus einschneidend verändert und geprägt werden. Tanja Schleyerbach |