Empfehlungen Oktober/November 2015
Eine Freundschaft, die es nicht geben darfThe Green Prince – Regie: Nadav Schirman. - 1 DVD, 2015. - 97 Min. Diesen Film vergisst man nicht so schnell. Er handelt von zwei Männern, die für ihr Land Verräter waren und sind: Mosab Hassan Yousef, Sohn des Hamasgründers Hassan Youssef, dessen Bild man noch sehr gut von den Nachrichten vor Augen hat. Ein schreiender, fanatischer Mann, der 16 Jahre in israelischen Gefängnissen saß, voller Wut- und Hassausbrüche. Wut, die man einerseits aufgrund der Situation der Palästinener verstehen kann, deren Konsequenzen man andererseits mit oder ohne dem Koran in der Hand nicht unbedingt gut finden muss. So sieht das irgendwann auch sein Sohn Mosab, und er wechselt die Seiten. Mosab verrät seine Familie, die Palästinenser, die Hamas, die Araber und den Islam. So sieht das die eine Seite. Was davon am schlimmsten ist, ist schwer zu sagen. Für ihn selbst wohl der Verrat an der Familie und den Freunden. Mosab, der schon als Kind vergewaltigt wurde und darüber mit niemandem reden kann, weil es in seinem Kulturkreis nur etwas gibt, das schlimmer ist, als andere zu vergewaltigen: selbst Opfer einer Vergewaltigung geworden zu sein. Was Mosab auf sich nimmt, ist kaum vorstellbar. Als Sohn eines Hamasführers ist er unter ständiger Beobachtung des Shin Bet und wird gefangengenommen, als sich er von einem Freund Waffen besorgt. Er wird psychisch und mit tagelangem Schlafentzug gefoltert, und als er mürbe ist und nicht mehr kann, als Spitzel für den Geheimdienst geworben. Mosab willigt ein. Er geht dafür ins Gefängnis, sogar zusammen mit seinem Vater, muss so tief wie möglich in die Hamas eindringen, alle Informationen sammeln, und doch ist es schwer, weil er sich weigert, ein Religiöser zu werden, sich einen Bart wachsen zu lassen. Sein Vater wird in Einzelhaft genommen und sein Sohn als einziger Kontakt zur Außenwelt zugelassen. Das ermöglicht es, Hassan Youssef unter Kontrolle zu bekommen. Auf der anderen Seite steht Gonen Ben Itzhak, Kontaktman beim israelischen Geheimdienst Shin Bet. Er hat dafür zu sorgen, dass Mosab die gewünschten Informationen liefert. Dafür gibt es verschiedene Wege. Es ist ein Abwägen zwischen Druck aufbauen, Respekt entgegenbringen, Verhandeln auf Augenhöhe, Macht ausüben und Vertrauen gewinnen. Vor allem Vertrauen muss die Basis sein, und doch kann es nie vollständig entfaltet werden, der andere ist immer noch der Feind. Er kann verraten oder fallenlassen. Nie und vor nichts ist man sicher. Vertrauen ist es aber, das die beiden aneinander immer mehr bindet, denn vor allem Mosab hat alles auf eine Karte gesetzt und verloren: Familie, Freunde – und später auch die Heimat und den Glauben. Noch nicht einmal gut bezahlt oder behandelt wird er. Doch er ist überzeugt, nur so kann er Menschenleben retten, und das ist seine Aufgabe. Wie Gonen möchte er Selbstmordattentate verhindern, und dafür gehen die beiden einen mehr als einen jahrzehntelangen Pakt ein. Aber auch Gonen wird fallengelassen, als er sich außerhalb des Geheimdienstes mit Mosab trifft. Er möchte ihm unbedingt beweisen, dass das Vertrauen echt ist, das er ihm als Mensch wichtig ist, und er glaubt, dass er Mosab nur so halten kann. Natürlich ist das keinem Kontaktmann gestattet, und so wird der studierte Psychologe, der Tag und Nacht für den Geheimdienst gelebt hat, vom Dienst suspendiert. Mosab will ausreisen, er will nicht mehr, er kann nicht mehr. Er soll in ein europäisches Land, in dem Shin Bet jederzeit Zugriff auf ihn hat und ihn zurückholen kann. Doch Mosab schafft es nach Kalifornien, offiziell für eine Kiefer-OP. Dort möchte er studieren, fängt ein vollkommen neues Leben an, und seine Mutter weiß, dass sie ihn lange nicht mehr sehen wird. Dieser Neuanfang ist so hart wie fast alles in seinem Leben. Die Familie, für die er das auch getan hat, bricht komplett und öffentlich mit ihm, er konvertiert zum Christentum, doch auch die Gemeinschaft distanziert sich, als er sich outet. Sie haben Angst vor ihm, misstrauen ihm, jeder sieht in ihm einen Spitzel, einen potenziellen Selbstmordattentäter. Er ist enttäuscht, mutterseelenallein und auch in großen finanziellen Schwierigkeiten. Er telefoniert mit seinem Vater im Gefängnis, der ihn zurückholen will, aber Mosab kennt die Strukturen zu genau und den Druck. Er hat alles verraten. Er ist vom wahren Glauben abgefallen. Die USA will ihm politisches Asyl verweigern, der Fall wird öffentlich, und Mosab tritt die Flucht nach vorne über die Medien an. Gonen sieht ihn auf einem Titelblatt einer israelischen Zeitung und fliegt nach Kalifornien, um ihn zu helfen. Der Asylantrag wird daraufhin positiv beschieden. Der Geheimdienst weiß es wohl - und duldet es. Heute lebt Mosab alleine in den USA, Gonem mit seiner Familie in Israel. The Green Prince ist die nervenaufreibende und unvorstellbare Geschichte einer Freundschaft, an denen die beiden selbst immer wieder (ver)zweifeln und fast zerbrechen. Am Ende siegt die Menschlichkeit über alles Misstrauen. Gonem hat sein Leben für Mosab aufs Spiel gesetzt, und Mosab würde ohne zu zögern dasselbe für ihn tun. Er ist nun seine Familie. Seine leiblichen Geschwister, die für ihn wie eigene Kinder waren, und die Familie hat er nie mehr gesehen. Der Film lebt von den Interviews mit den beiden sehr persönlichkeitsstarken Männern und wurde mit mehreren Filmpreisen für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Tanja Schleyerbach |
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Vom Erwachsenwerden
McNeill, Killen: Am Strom. Roman. - Ars Vivendi, 2015.- 294 S. Neudecker, Christiane: Sommernovelle. - Luchterhand, 2015. - 186 S. Auch „Sommernovelle“ von Christiane Neudecker beschäftigt sich mit den Idealen von Jugendlichen. 1989 ist die Zeit kurz vor der Wende und nur wenige Jahre nach Tschernobyl. Die beiden Schülerinnen Lotte und Panda wollen sich für den Umweltschutz einsetzen und heraus aus der Kleinstadt. In den Sommerferien arbeiten sie zusammen mit Studenten und Rentnern auf einer skurrilen Vogelstation am Meer. Sie streifen über die Nordsee-Insel und führen Kurgäste durch das Watt. Doch langsam fügen sich die Eigenschaften der Menschen in der Station zu einem entlarvenden Mosaik zusammen. Denn was geschieht, wenn man sich mitten in der Lebenslüge von anderen Menschen befindet? Ein Coming-of-Age-Buch für Erwachsene mit viel Gefühl. Andrea Däuwel-Bernd |
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Afghanistan - Alltag im Krieg
Wurmb-Seidel, Ronja von: Ausgerechnet Kabul. 13 Geschichten vom Leben im Krieg. – DVA, 2015. – 255 S. „Das erste Mal, als ich eine Explosion vor mir gesehen habe, da war ich zehn. Es war furchtbar. Und ich werde es niemals vergessen. Ich will nur nicht die ganze Zeit traurig sein. Das Leben ist so kurz. Vor allem in diesem Teil der Welt.“ „Wenn Ihr nach Hause kommt, erzählt von uns und sagt: Für euer Morgen haben wir unser Heute gegeben“. Was treibt eine 27-jährige Journalistin dazu, sich ein ganzes Jahr nach Afghanistan zu begeben und mit den Menschen im Dauerkrieg ihr Leben zu teilen? Ronja von Wurmb-Seibel findet lange keine Antwort auf diese Frage, nur dass sie weiß: sie muss es trotz aller immer wieder aufkommender Zweifel und der Verständnislosigkeit ihrer Freunde und Familie tun. Am Ende sagt sie dazu: „Ich mag euer Land“. In dreizehn Geschichten erzählt die mutige Frau vom Leben im Krieg. Von abgeriegelten Bundeswehr- und NATO-Camps mit strengen Ausgehverboten und Menschen, die Blindgänger entschärfen und dabei sterben oder schwer entstellt werden. Von amputierten Gliedmaßen, von Korruption, ohne die in Afghanistan nichts geht und von Partys mit White Lists, über die alle wichtigen Beziehungen laufen. Sie berichtet von außergewöhnlichen Frauen und Männern, die trotz des täglichen Wahnsinns, der permanenten Angst und der nicht endenden Bombardierungen ihr Leben für andere hingeben und riskieren. Sie berichtet vom Jahr 2014, dem Jahr des Abzugs und von einer Konstanzer Psychologin, die eine spezielle Traumatherapie entwickelt und mehr als 200 Afghanen darin ausbildet, die 11.000 Menschen damit behandeln - zwei Drittel der Afghanen sind schwer traumatisiert. „In Kabul lernt man den Tod früh kennen. Aber man gewöhnt sich nie an ihn.“ Immer noch wird Wurmb-Seidel wütend, wenn sie von Deutschen hört, dass die Afghanen besser mit dem Dauerkrieg klarkommen als die Bundeswehrsoldaten, sich an ihn gewöhnt haben, einen anderen Umgang mit dem Tod pflegen und sich mehr aufregen, wenn jemand den Koran verbrennt, als wenn jemand stirbt. Sie ist tief eingetaucht in ein Land voller Schönheit, deren Bewohner in unvorstellbaren Zuständen leben. Und sie nimmt eine Erkenntnis mit, die sie nicht nur aus Geschichtsbüchern erfahren hat: „Krieg ist beschissen… Selbst die Menschen, die ihn überleben, zerstört er. Und wenn er vorbei ist, geht er noch jahrzehntelang weiter. “ Tanja Schleyerbach |
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Rasiermesserscharfe Beziehungsanalysen
Menasse, Eva: Quasikristalle. - Kiepenheuer & Witsch, 2013. - 425 S. In jedem Kapitel muss man sich auf neue Personen und Konstellationen einlassen, bis man endlich versteht, Xane ist der Kristallationspunkt des Romans, der diese verschiedenen Wesen alle auf eine lose Weise verbindet und mit ihnen spielt (Quasikristalle). Ein egozentrisches Spiel ist es, lieblos und kalt, sie lockt ihre Opfer, um sie im nächsten Moment wieder fallen zu lassen. Xane, das Biest, das andere unter ihrer Profilneurose leiden lässt, bedingungslosen Gehorsam und Bewunderung verlangt und sich wundert, dass keine Freunde da sind, wenn sie glaubt, ein Notfall sei eingetreten und welche zu brauchen. Das früheste Opfer ist Claudia aus der Schulzeit, die stirbt, als Xane und Judith sie ausgrenzen. Die anderen sterben nicht gleich, aber manche gehen dennoch an ihren hemmungslosen Machtspielen zugrunde. Seltsam, dass sie es jahrzehntelang mit demselben Mann aushält respektive er es mit ihr. Liebe sucht man vergeblich in diesem Roman, in dem es um Nazieltern, prügelnde Väter, spießige Vermieter, ungelebte Sehnsüchte, das Altwerden, Mord an Pflegebedürftigen, Elternneurosen, Risse, Brüche und Dramen in Freundschaften und Lieben, Auschwitz, unaufgearbeitete Beziehungsmuster in allen Varianten, neuzeitliche Lügenkonstrukte versnobter Gesellschaftsschichten und allgemein um Gesellschafts- und Kapitalismuskritik geht. Rasiermesserscharf hat Menasse alles durchdrungen, scheint in alle Kreise tief eingetaucht zu sein. Jeder muss sich ihren Urteilen unterwerfen, keiner entkommt ihr ungeschoren. In manchen fühlt man sich ertappt, und man kann sich gut vorstellen, wie sie einen selbst sezieren würde. Aber wie alle sinkt auch Xanes Stern: das Alter schlägt zu, der Mann stirbt, die Firma geht insolvent. Sie überrascht die Familie noch einmal, als sie in Berlin alle Zelte abbricht, um erneut nach Wien zu ziehen, um mit einem älteren Lebensgefährten einen Neuanfang zu wagen. Die Zeit, ein Wimpernschlag in der Geschichte, ist mit Leichtigkeit und emotionslos auch über die unangreifbar potent scheinende Xane hinweggezogen. Tanja Schleyerbach |