Empfehlungen Februar/März 2016
Abschiednehmen als Graphic NovelRoz Chast: Können wir nicht über was anderes reden? Graphic Novel. - Rowohlt, 2015. - 240 S. |
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Der Irrsinn im eigenen Wohnzimmer
„Wie hältst Du das aus?“ will Simon von seiner Mutter vor seinem Auszug wissen. „Ich liebe ihn“ ist ihre schlichte Erklärung. Es kommt die spannende Frage, wann Simons Mutter von der Erkrankung wusste: vor oder nach seiner Geburt? Und da ist noch die viel jüngere Schwester Maja, das Kind, das stellvertretend für alle Fragen stellt, die Simon einfühlsam beantwortet. Der 23-jährige Simon ist um seine Kindheit und Jugend gebracht worden. Er übernimmt eine Verantwortung, für die er zu jung und die zu groß für ihn ist. Er ist die Klammer, die die Familie zusammenhält. Seinen Job als Schulbusfahrer verliert er, weil er den Sohn von dem mit der Axt ist. Aber eines Tages tritt die angehende Medizinstudentin Verena in sein Leben. Und Simon beginnt, eigene Bedürfnisse zu spüren und sich zu lösen. Er schafft den Absprung – äußerlich. Er weiß allerdings nicht, wie Maja das Irrenhaus ohne ihn aushalten soll. Aber er sorgt dafür, dass ihm sein Leben nicht weiter entgleitet und von der Krankheit seines Vaters vollkommen dominiert wird. Auf die Frage Verenas, was seine Träume sind, hat er keine Antwort. Ob er die Krankheit geerbt hat, er weiß es noch nicht – die Chancen stehen 20:80. Christian Bach hat ein starkes Regiedebüt im Fernsehformat vorgelegt. Der Humor kommt nicht zu kurz, und das Drama ist in keinem Moment rührselig. Tobias Moretti und Jonas Nay verkörpern sehr lebensnah diese komplexe Vater-Sohn-Beziehung, und das Abgleiten in die Schizophrenie mit all ihren Facetten, Brüchen und Widersprüchen ist hautnah und sehr eindringlich nachzuvollziehen.
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Was bleibt
Mankell springt zwischen seinem Leben, seinen Gefühlen, gesellschaftlichen Fragen und in der Menschheitsgeschichte hin und her. Von nüchtern bis wehmütig ist sein Umgang mit der Diagnose und der Krankheit Krebs. Natürlich spielt Afrika, seine zweite Heimat, eine bedeutende Rolle. Ein bewegtes und bewegendes Leben in Splittern und Bruchstücken zieht an seinen Lesern vorüber. Existenzielle Ängste thematisiert Mankell ebenso wie persönliche Rückschläge und Niederlagen. Manche Szenen sind grausam. Nicht alle Details aus Mankells Leben sind richtig spannend, auf manche könnte man ohne Verlust verzichten. Seine Gedankenreisen sind anregend. Sie liefern keine Erklärungen oder fertige Antworten. Sie werfen immer wieder Fragen auf. Bereichert werden sie mit Bildern und Gegenständen aus der europäischen Kunstgeschichte und mit Fotografien. Mankell sieht eine Verbindung nicht nur unter allen lebenden Menschen, sondern unter allen Menschen, die jemals auf diesem Planeten gelebt haben und denen, die noch kommen werden. „Unsere eigentliche Familie ist unendlich“. Er hebt die Trennung auf, die die Individualisierung geschaffen hat. Die menschliche Triebfeder, am Leben zu bleiben, ist für ihn die Lebensfreude. Nüchtern spricht er vom sicheren Aussterben der Menschheit. Mankell lässt uns zurück – nachdenklich, fragend, suchend. Tanja Schleyerbach |
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Musikalische VerbindungenWie sich klassische Musik mit Jazz vereinen lässt, kann man in diesen wunderschönen neueren Produktionen hören: Music for a while: Improvisations on Purcell / L’Arpeggiata ; Christina Pluhar. Hamburg, Warner Music - 1 CD „Music for a while“ widmet sich der Musik des überragenden englischen Barockkomponisten Henry Purcell und seinen bekanntesten Vokalkompositionen. Die von den renommierten Solisten Philippe Jaroussky, Raquel Anueza, Vincenzo Capezzuto und Dominique Visse betörend schön gesungen Stücke und Arien entfalten ihren ganzen Charme. Dabei gleicht es einer Entdeckungsfahrt, wie das Barockensemble L‘Arpeggiata unter Leitung von Christina Pluhar gemeinsam mit den Jazzmusikern Gianluigi Trovesi (Klarinette) und Wolfgang Muthspiel (Gitarre) danach strebt, der Musik von Henry Purcell gerecht zu werden. Die nahtlosen Anschlüsse der unterschiedlichen Instrumente, Improvisationen und Spielweisen offenbaren schnell, dass Jazz- und Barockmusik sich in ihrem Wesen näher sind, als man das auf den ersten Blick denken würde. Die Erneuerung der alten Musik aus sich selbst ist auf wundersame Weise so möglich. |
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Sebastian Sternal: Sternal Symphonic Society. Berlin: Traumton, 2012 – 1 CD Diese Einspielung zeigt auf ganz andere Art, wie sich Klassische Musik und Jazz gegenseitig befruchten können und welche musikalischen Verbindungen möglich sind. Der junge Jazzpianist Sebastian Sternal hat sein Ensemble Sternal Symphonic Society um ein Streichquartett erweitert und verleiht seiner Musik zu dem Sound einer klein besetzten Bigband eine weitere, kammermusikalische Dimension. Die Musik von Sebastian Sternal erinnert an die Idee des Third Stream ohne dogmatisch zu sein und nutzt die klanglichen Möglichkeiten seines erweiterten Ensembles.
Axel Blase |
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Reportagen aus einer zerrissenen WeltKermani, Navid: Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt. Mit einer aktuellen Reportage aus dem Irak. - C.H. Beck Verl., 2015. - 300 S.
Beunruhigend ist, was Navid Kermani aus der arabischen Welt zu berichten hat. Nicht dass man danach verstehen würde, warum die arabische Welt so zerrissen, verfeindet und im Untergang begriffen ist. Zurück bleibt weniger Verständnis denn eine Ahnung, dass diese Probleme möglicherweise wie im Israel-Palästina-Konflikt seit Jahrzehnten zu beobachten niemals zu lösen sein werden. Zu komplex sind die verschiedenen Sichtweisen, zu lange währt schon der Terror und die Kriege, die Unterdrückung, die Grausamkeiten, die nicht immer hilfreiche Einmischung der westlichen Länder, und zu unterschiedlich sind die inzwischen meist nicht mehr funktionierenden Gesellschaftssysteme, in denen die arabischen Länder sich eingerichtet haben. Niemals vorher ist mir so klar geworden, wie wenig einheitlich die arabische Welt tickt, wie wenig sie verbindet und wie viel sie trennt. Nicht chronologisch geordnet hat der Preisträger zahlreicher Auszeichnungen seine über zehn Jahre (2004 – 2014) entstandenen Zeitungsreportagen in deutlich erweiterter Form als Buch veröffentlicht, und sie geben einen tiefen Einblick in die Prozesse der Länder Afghanistan, Pakistan, Irak, Indien, Ägypten, Palästina und in die Zustände auf Lampedusa. Kermani begibt sich nicht selten in Lebensgefahr, und er kommt mit den führenden Köpfen der jeweiligen Länder zusammen, interviewt hohe Politiker, Geistliche, Rebellen und Kämpfer, stellt mutige und gefährliche Fragen und berichtet von erstaunlichen, widersprüchlichen, verblendeten Antworten. Beschreibend ist sein Stil, Fakten beobachtend und benennend, einfühlsam, menschlich, reflektierend und journalistisch zurückhaltend in seiner Wertung – bis, ja bis er nach Gaza kommt. In seiner vorletzten Reportage von 2005 bricht er mit der Neutralität, hier wird er parteiisch, kapituliert als Autor und will es auch nicht anders. Er urteilt, er hat aufgehört zu beschreiben. Passiert ist dieser Bruch, als er an einem Checkpoint im Gaza mit Palästinensern von Israelis „wie Schweine rennend“ durch die Schleusen geschickt wird und von einem Grenzsoldaten gefragt wird, ob er Tierarzt sei, oder warum er hier mitlaufe. Auch in seiner letzten Reportage aus Lampedusa 2008 findet der habilitierte Orientalist und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung deutliche und wenig beschönigende Worte für das, was sich auf der Insel ereignet. Nicht dass der Iraner Kermani Lösungen anzubieten hätte, doch die Beschreibung der Realität, das Geschäft mit den Flüchtlingen, die eiskalte Berechnung mit den Hilfsgeldern, das „Schaufenster“, in dem „Europa… seine Menschlichkeit demonstriert“ – auf der anderen Seite hermetisch abgeriegelt die Urlauber, die Marienprozession der Einheimischen, es wirft Fragen auf, es wühlt auf. 20.000 neu ankommende Flüchtlinge alleine im Jahr 2008 auf 4.500 Einwohner der winzigen Insel. Wer einen Einblick in die Vielfalt der arabischen Konflikte und Berichte von den Menschen aus diesen Ländern bekommen möchte, er sollte Kermanis Reportagen nicht auslassen. Tanja Schleyerbach |